Von Jan Ackermeier

Am 6. Oktober 1908 verkündete der österreichisch-ungarische Außenminister Alois Lexa von Aehrenthal, dass das Habsburgerreich die Verwaltung der Provinzen Bosnien und Herzegowina nicht länger im Namen des Osmanischen Reiches, sondern fortan als Teil der Monarchie führen werde. Damit erklärte Österreich-Ungarn die formelle Annexion eines Gebietes, das es bereits seit 1878 mit Ende der Balkankrise besetzt hielt – ein Schritt, der die politische Landkarte Europas erneut veränderte.

Die Balkankrise
Als Balkankrise bezeichnet man die von der Balkanhalbinsel ausgehende Krise zwischen den europäischen Großmächten in den Jahren 1875–1878, die mit den Unabhängigkeitsbestrebungen der Balkanvölker vom Osmanischen Reich eng in Verbindung stand und zum Russisch-Osmanischen Krieg (1877–1878) sowie zum Frieden von San Stefano (1878) führte. Bosnien und Herzegowina waren seit dem Berliner Kongreß von 1878 offiziell unter osmanischer Oberhoheit verblieben, wurden aber de facto von Wien verwaltet. Die Bevölkerung war religiös und ethnisch vielfältig: Muslime, orthodoxe Serben und katholische Kroaten lebten nebeneinander, teils in Spannung, teils in gewachsener Nachbarschaft. Die Annexion wurde in Wien als innenpolitischer Erfolg gefeiert, vor allem von jenen, die in einem geeinten Südslawentum eine Bedrohung sahen. Doch in Belgrad löste sie Empörung aus. Serbien betrachtete Bosnien und Herzegowina als Teil seiner nationalen Bestimmung und fühlte sich von der Großmacht Österreich-Ungarn übergangen.

Der Konflikt war unvermeidlich
Die sogenannte „Bosnische Annexionskrise“ entwickelte sich rasch zu einem internationalen Konflikt. Russland, das Serbien unterstützte, drohte zunächst mit militärischen Schritten, zog sich aber zurück, als Deutschland fest hinter Wien stand. Die übrigen europäischen Mächte suchten einen Ausgleich, um einen Krieg zu verhindern. So blieb die Annexion zwar bestehen, doch sie verschärfte die Spannungen auf dem Balkan und vertiefte die Feindschaft zwischen Wien und Belgrad – ein Keim, der 1914 im Attentat von Sarajevo zur tödlichen Blüte kam. Die Annexion von 1908 war daher mehr als ein juristischer Akt. Sie vertiefte das Mißtrauen zwischen den europäischen Großmächten und markierte den Beginn jener Kettenreaktion, die im Ersten Weltkrieg mündete.

Beitragsbild / Symbolbild: Französische Karikatur im Oktober 1908: Sultan Abdülhamid II. sieht hilflos zu, wie Kaiser Franz Joseph Bosnien-Herzegowina und Zar Ferdinand Bulgarien aus dem Osmanischen Reich herausreißen. Urheber unbekannt.

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