Von Jan Ackermeier

Am 10. Jänner 1919 entsteht durch einen Vermessungsfehler auf dem Gebiet der preußischen Provinz Hessen-Nassau zwischen den nach dem Ersten Weltkrieg von Frankreich und den USA besetzten Gebieten die Mikronation „Freistaat Flaschenhals“, die bis 1923 Bestand haben wird. Nach Kriegsende wurde im Waffenstillstand von Compiègne die Besetzung des linksrheinischen Gebietes durch die Alliierten und zusätzlicher Brückenköpfe bei Köln (britisch), Koblenz (US-amerikanisch) und Mainz (französisch) angeordnet. Zwischen dem US-amerikanischen Brückenkopf von Koblenz und dem französischen Brückenkopf bei Mainz, die jeweils einen Radius von 30 Kilometer abdeckten, blieb ein schmaler Streifen zwischen dem Rheintal und Limburg an der Lahn unbesetzt, der wegen der Lage zwischen zwei einander fast berührenden Kreisbögen die Form eines Flaschenhalses hatte.

Der Flaschenhals
Die Ortschaften dieses Gebiets unterstanden bis zu diesem Zeitpunkt den Kreisverwaltungen des Rheingaukreises, des Untertaunuskreises und des Landkreises St. Goarshausen, deren Hoheitsgewalt nunmehr an den Grenzen der besetzten Brückenköpfe endete, so dass im „Flaschenhals“ auf dieser Verwaltungsebene ein Notstand eintrat, der zur Selbstverwaltung zwang. Dieses Gebilde war der „Freistaat Flaschenhals“. Über die gesamte Einwohnerzahl gibt es unterschiedliche Angaben: Der Lorcher Bürgermeister Edmund Pnischeck, de facto Oberhaupt des Flaschenhalses, spricht in seinem 1924 angefertigten Bericht von rund 8.000 Seelen, während ein 1919 abgefaßtes Schreiben des Kasseler Regierungspräsidiums die Zahl 17.363 nennt. Eine Addition der geschätzten damaligen Einwohnerzahlen liegt deutlich näher bei 8.000.

Streit um das Gebiet
Anfangs unternahmen sowohl die französische Besatzungsmacht als auch die deutschen Verwaltungsstellen der Brückenköpfe Bestrebungen, den Flaschenhals dem besetzten Gebiet zuzuschlagen – erstere deshalb, weil der Flaschenhals strategisch und logistisch störte, und zweitere aus gutem Willen, weil sie nicht glaubten, das Gebiet könne sich in seiner isolierten Lage halten. Die Einwohner des Flaschenhalses leisteten energischen Widerstand, da sie trotz ihrer ungewissen Situation freies Land bleiben wollten. Schließlich wurden alle derartigen Absichten fallen gelassen. Wegen der weiterhin relativ isolierten wirtschaftlichen Lage veranlaßte Pnischeck die Herausgabe eines eigenen Notgeldes, das in den besetzten Nachbargebieten bald einen erheblichen Wert gewann.

Dann kamen die Marokkaner
Am 25. Februar 1923, wenige Tage nach der Ruhrbesetzung, marschierten marokkanische Hilfstruppen der französischen Armee in den Flaschenhals ein, während Pnischeck sich auf der Rückreise von Wiesbaden noch in Rüdesheim aufhielt. Als er davon erfuhr, machte er sich schnellstmöglich auf den Weg nach Lorch, das jedoch bereits eingenommen war, als er eintraf. Pnischeck wurde gefangengenommen und von der französischen Militärgerichtsbarkeit wegen diverser Aufsäßigkeiten und allgemein wegen der Nichteinhaltung der Reparationsbedingungen seitens Deutschlands zu einer Haftstrafe verurteilt. Die Einwohner des Flaschenhalses leisteten weiterhin passiven Widerstand gegen die französische Besatzung und verweigerten jede Unterordnung, bis im November 1924 nach der Londoner Konferenz die rechtsrheinische Besatzung beendet wurde.

Beitragsbild: Karte des „Freistaats Flaschenhals“, 1919–1923. Urheber unbekannt.

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