Von Jakob Maria Mierscheid
Der vorherige Beitrag (Teil 1) befasste sich mit dem Volksbegriff und seinen verfassungsschutzrechtlichen Implikationen. Der Vorwurf, die AfD vertrete einen ethnisch-kulturellen Volksbegriff, vermag den Tatbestand der Verfassungswidrigkeit nicht zu tragen. Im Gegenteil – entspringt der ethnisch-kulturelle Volksbegriff der deutschen Verfassungstradition und konturiert die dem Grundgesetz zugrunde gelegte verfassungsgebende Gewalt des deutschen Volkes, welche als Grund der Verfassung die nationalstaatliche Entscheidung zur politischen und rechtlichen Form des demokratischen Subjekts festhält.
Delegitimierung des Staates – eine ausufernde Kategorie der Verfassungsschutzpraxis
Darüber hinaus werden von den Verfassungsschutzämtern und ihnen zugetanen Juristen weitere Vorwürfe erhoben: so überschreite die Kritik der AfD und ihren Vertretern an den politischen Zuständen und den Parteien den Bereich des verfassungsrechtlich Zulässigen, da sie auf die Delegitimierung des Staates und seiner Repräsentanten abziele. Dieser aus den Verfassungsschutzberichten stammende Verdachtstatbestand ist eine relativ neue Erscheinung. Dogmatisch gestützt wird die sogenannte verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates auf das SRP-Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Darin stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass die von SRP-Politikern an die anderen Parteien adressierte Verächtlichmachungen als Schein-und Lizenzparteien, die nicht den „wahren“ Interessen des deutschen Volkes entsprächen, eine sich gegen die grundgesetzliche Demokratie richtende Form der Fundamentalkritik sei:
Die anderen Parteien, von Hitler ständig als „Systemparteien“ verächtlich gemacht, werden heute mit der gleichen Beharrlichkeit als „Lizenzparteien“ und „Monopolparteien“ bezeichnet, die Regierung als „Lizenzregime“ herabgesetzt; statt „Erfüllungspolitiker“ heißt es heute „Erschöpfungspolitiker“, statt „Plutokraten“ „Lumpokraten“, statt „Novemberverbrecher“ „Landesverräter“. (BVerfG, Urteil vom 23.10.1952 – 1 BvB 1/51)
In der Tat wird man dem Bundesverfassungsgericht soweit folgen können, dass eine derartige Herabwürdigung der politischen Konkurrenz in letzter Konsequenz zu einem revolutionären Umbruch und einer Totalrevision der Verfassungsordnung führen müsse. Problematisch an dieser Figur ist aber, dass polemische und auch grundsätzliche Kritik an den bestehenden politischen Verhältnissen nicht nur bloß zulässig, sondern auch im Hinblick auf die Offenheit des demokratischen Willensbildungsprozesses notwendig ist. So ist die dominante Rolle der Parteien im grundgesetzlichen Verfassungsstaat in der Vergangenheit immer wieder auch scharf kritisiert worden. Erinnert sei daran, dass es der ehemalige Bundespräsident von Weizsäcker war, der den Parteien vorhielt, dass sie sich den Staat zur Beute gemacht haben. Auch in der Rechts-und Staatswissenschaft ist die Stellung der Parteien umstritten. An prominenter Stelle artikulierten Wilhelm Hennis und Hans Herbert von Arnim eine fundamentale Kritik an der als Machtkartell gekennzeichneten politischen Praxis der Parteien.
Diese Kritik muss man nicht teilen. Aber Schutzgut des Verfassungsschutzrechts ist nicht die herrschende politische Praxis oder die politische Regierung. Diese muss sich auch harsche und womöglich unsachliche Kritik gefallen lassen. Die sicherheitsgarantierende Funktion des Verfassungsschutzrechts erstreckt sich nicht auf einen politischen Bestandsschutz der gerade regierenden Partei.
Prämie der Superlegalität
Ansonsten träte dies ein, wovor Carl Schmitt als Prämie der Superlegalität gewarnt hatte; nämlich, dass sich die jeweilige parlamentarische Mehrheit durch den Vorteil der legislativen Mehrheit letztlich einen politischen Vorteil zementiert, mit der Folge, dass die Chancengleichheit der Parteien als fundamentales Strukturprinzip des parlamentarischen Systems nicht mehr gegeben ist.
„So verwandelt sich die justizförmige Chance der nicht herrschenden Partei in das Gegenteil einer Chance. […] Die Mehrheit ist jetzt plötzlich nicht mehr Partei; sie ist der Staat selbst. Infolgedessen bewirkt, über jede Normativität hinaus der bloße Besitz der staatlichen Macht einen zur bloß normativistisch-legalen Macht hinzutretenden zusätzlichen politischen Mehrwert, eine über-legale Prämie auf den legalen Besitz der legalen Macht und auf die Gewinnung der Mehrheit.“ (Schmitt, Legalität und Legitimität)
Als geradezu infam ist es zu werten, dass die Autoren der juristischen Stellungnahme das Verhalten des Thüringer Alterspräsidenten bei der konstituierenden Sitzung des Landtags als Beleg für die Delegitimierung des parlamentarischen Systems durch die AfD heranziehen. Denn selbst wenn man der später durch den Staatsgerichtshof bestätigten Rechtsauffassung der anderen Fraktionen folgt, dass das Antragsrecht den Abgeordneten jederzeit und damit auch vor der eigentlichen Konstitution des Thüringer Landtags zur Verfügung stehe, muss doch berücksichtigt werden, dass die Fortgeltung der Geschäftsordnung keine bloße Selbstorganisation des Landtags war, sondern über ein Landesgesetz angeordnet wurde. Der Alterspräsident stammt somit vor der Wahl, entweder die einfachgesetzliche Anordnung zu durchbrechen oder sich der taktisch durchsichtigen Auffassung der anderen Fraktionen anzuschließen.
Problematischer Nexus zwischen Partei und Anhänger
Nach den Vorschriften des Art. 21 II, IV GG können Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden durch das Bundesverfassungsgericht verboten werden. Es kann den Voraussetzungen genügen, dass eine Parteiprogrammatikfür nicht verfassungswidrig ist, das Verhalten der Anhänger sich aber dennoch gegen den Kernbestand der freiheitlich-demokratischen Grundordnung richtet. Das politische Engagement der Anhänger kann somit der Partei zugerechnet werden. Fraglich ist, unter welchen Voraussetzungen dieses zugerechnet werden kann. Der Nexus zwischen Partei und Anhängerverhalten läuft Gefahr, der Partei nicht zurechenbare Gefährdungshandlungen, auf die sie selbst auch keinen Einfluss hat, der Partei zuzurechnen. Somit stellt sich die Frage:
Was ist ein Parteianhänger?
Das Bundesverfassungsgericht hat den Begriff des Anhängers von drei Seiten her bestimmt: Nämlich erstens im Lichte der Parteiziele, die sich im Verhalten der Anhänger „spiegeln“, zweitens aus der Sicht des Anhängers, der sich für die Partei „einsetzen“ muss und schließlich aus der Sicht der Partei definiert, die dieses Verhalten in einer Weise „bestimmen“ muss, dass sie „die Verantwortung dafür trägt“ (BVerfGE 2, 1/21 – SRP)
Der Zurechnungstatbestand ist also bei einem gegenseitigen Entsprechungsverhältnis gegeben, welches ein Element ideologischer Spiegelung und tatsächlich politisch aktiver Bestimmung enthält. Umstritten ist besonders, ob die Partei das Verhalten von Anhängern billigen muss, oder ob die bloße Duldung den Zurechnungsvoraussetzungen genügt. Nach hier vertretener Auffassung ist die Streitfrage dogmatisch im Anschluss an den Spiegelbildgedanken zu entscheiden. Denn im Spiegelbildgedanken formuliert sich ein verfassungswidriger „Unrechtspakt“, der sich zu einer Gefährdung des Staates und der freiheitlich demokratischen Grundordnung verdichtet.
Ebenso wie etwa im Strafrecht bei der Bestimmung von Täterschaft, Mittäterschaft und Teilnahme eine Form arbeitsteiligen Zusammenwirkens oder zumindest der wechselseitigen Taterleichterung vorliegen muss, setzt das Gefahrenabwehrrecht des Verfassungsschutzes eine gegenseitige ideologisch-politische Befruchtung im Verhältnis von Partei und Anhänger voraus. Im Falle der AfD hieße dies, dass nicht schon jede verfassungsrechtlich problematische Äußerung etwa auf einer Demonstration oder ähnlichen Veranstaltungen der Partei zugerechnet werden dürfen.
Herrschaft des Verdachts – plausible deniability oder in dubio pro libertate
Die Auslegung von Meinungsäußerungen ist sowohl im Verfassungsschutzrecht wie auch im Bereich der Meinungsdelikte (etwa Volksverhetzung im Sinne von § 130 StGB) eine Herausforderung für den Rechtsstaat. Denn rechtsstaatliches Handeln bedeutet nicht nur, dass der Staat justizförmig oder im Wege des Gesetzes handelt, sondern dass grundlegende rechtsstaatliche Verteilungsprinzipien eingehalten werden. Diese bestehen darin, dass das Handeln des Einzelnen prinzipiell frei und unbeschränkt ist, das Handeln des Staates hingegen prinzipiell berechenbar und messbar sein muss. Schränkt der Staat die Freiheit des Einzelnen ein, muss er dies als verhältnismäßig rechtfertigen.
Meinungsäußerungen von Parteimitgliedern als Beleg für die Verfassungswidrigkeit einer Partei heranzuziehen, steht in einem Spannungsverhältnis zur grundsätzlichen Weite der Meinungsäußerungsfreiheit. In seinem Wunsiedel-Beschluss hat das Bundesverfassungsgericht geurteilt, dass auch undemokratische und gefährliche Meinungen, die in letzter Konsequenz auf eine revolutionäre Totalrevision der Verfassung hinauslaufen, von der Meinungsfreiheit gedeckt sind.
Das bloße Meinen ist somit kein tauglicher Anknüpfungspunkt für eine verfassungsschutzrechtliche Gefahrenlage. Entscheidend ist der Wille, dem Meinen politische Taten folgen zu lassen. Die Übergänge sind hier fließend, da Sprache nicht eindeutig, sondern mehrdeutig und nuancenreich ist.
Eine rechtsstaatliche Auslegung von Äußerungen muss hier einem vor allem aus dem Strafrecht bekannten, aber im Kern allgemein gültigen Grundsatz folgen: in dubio pro libertate. Wenn also einer Äußerung in gleichwertig nachvollziehbarer Weise unter Berücksichtigung aller Gesamtumstände, sowohl eine verfassungskonformer als auch ein verfassungswidriger Gehalt entnommen werde kann, so darf nicht die verfassungswidrige Variante als Beleg herangezogen werden. In der Stellungnahme zum AfD-Verbot verfolgen die Autoren einen anderen Auslegungsansatz. Sie gehen davon aus, dass AfD-Politiker eine Strategie der sogenannten plausible deniability verfolgen:
„Sie [die AfD] nutzt die Mehrdeutigkeit der Sprache zur Manipulation der Adressatinnen und Adressaten. Die Kommunikatoren richten ihre Äußerungen strategisch so aus, dass sie bestimmte Botschaften beinhalten. Es werden doppeldeutige Aussagen getroffen und die sprachlichen Interpretationsmöglichkeiten genutzt, um den Adressatinnen und Adressaten implizite Inhalte und Ziele zu vermitteln, die gleichzeitig anderen gegenüber (bisweilen mit gespielter Empörung) geleugnet und zurückgewiesen werden können.“
Dies heißt wohl, dass AfD-Vertreter sich den Bedeutungsreichtum der Sprache zunutze machen, um für sich verfassungskonforme Äußerungen in der Gesamtschau verfassungsfeindlich aufzuladen. Nachvollziehbar daran ist, dass zumal als Partei oder Verein organisierte Verfassungsfeinde selten ihre Absichten aufdecken, sondern versuchen werden, eine verfassungsfreundliche Mimikry zu betreiben. Das Konzept der plausible deniability darf als Auslegungsmethode nicht aber soweit führen, dass aus dem Fehlen einer verfassungsfeindlichen Zielsetzung in einer Äußerung auf ihr Vorliegen geschlossen würde, etwa nach dem Grundsatz:
Gerade weil etwas nicht gesagt wurde, wurde es gesagt…
In der als Beleg für die Verfassungsfeindlichkeit der AfD angeführten Zitatsammlung finden sich zahlreiche Äußerungen, die entweder verfassungsrechtlich völlig unproblematisch sind, oder denen zumindest auch nach verständiger Würdigung eine verfassungskonforme Bedeutung entnommen werden kann. So wird mehrfach jeder Bezug zur Remigration als verfassungsfeindlich bewertet. Doch ist Remigration zunächst ein neutraler sozialwissenschaftlicher Begriff, der lediglich das Spiegelbild der globalen Migrationsströme bildet. Die Forderung nach Remigration ist insoweit nicht problematischer als die von antinationalen Aktivisten und Politikern geäußerte Forderung nach mehr Migration. Auch Bundeskanzler Scholz machte sich im Übrigen die Forderung nach massenhafter Abschiebung zu eigen.
Etwas problematischer ist der von AfD-Vertretern zuweilen geäußerte Rekurs auf den Begriff des Bevölkerungsaustauschs. Hier kommt es darauf an, was damit gemeint ist. Ist damit Art und Umfang einer Masseneinwanderung gemeint, die auf lange Sicht hin, dazu geeignet ist, die ethnisch Deutschen in eine Minderheitenposition zu drängen, ist dies eine politisch deskriptive Prognose, die man befürworten oder ablehnen kann. Gegen den Bestand der Bundesrepublik richtet sie sich nicht. Auch impliziert sie nicht die Forderung nach massenhaften Deportationen oder gar ethnische Säuberungen, sondern ist in den allermeisten Fällen als Apell zu verstehen, die Migration nach Deutschland zu beenden. Dies ist, wie auch in Teil 1 des Beitrages zum ethnisch-kulturellen Volksbegriff klargestellt wurde, keine verfassungsfeindliche Forderung. Auch die Judikatur hat immer wieder bestätigt, dass die Forderung nach dem Erhalt des ethnisch-kulturellen Volkes für sich nicht verfassungswidrig ist.
Dem Begriff des Bevölkerungsaustauschs kann allenfalls dann Verfassungsfeindlichkeit beigemessen werden, wenn man ihn als groß angelegte Verschwörung „finsterer Hintergrundmächte“ zur Neubesiedlung Europas verstünde, deren Handlanger die etablierten Parteien oder die Bundesrepublik im Ganzen sind. In Anwendung der oben erläuterten SRP-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hätten solche Parteien oder ein solcher Staat keine Legitimitätsgrundlage, was eine revolutionäre Beseitigung des bestehenden Systems nahelegte. Eine solche Bedeutung und Zielrichtung dürften aber die angeführten Äußerungen nur selten haben. Jedenfalls hätte die Stellungnahme die eben konturierte verfassungskonforme Auslegungsmöglichkeit in Erwägung ziehen müssen und nicht in einen schlagwortgeleiteten Subsumptionsautomatismus verfallen. Erinnert sei auch daran, dass der den Begriff des Bevölkerungsaustauschs mitunter prägende französische Schriftsteller Renaud Camus, diesen Begriff nicht als interessengeleitetes Hintergrundgebaren verstand, sondern vorrangig als Prozess und Symptom eines geschwächten ethnisch-politischen Selbstbewusstseins der Europäer. Eine solche Dekandenzthese mag man „gut“ oder „schlecht“ finden, verfassungswidrig ist sie nicht.
Es spricht somit für die Unkenntnis der Verfassungsschutzbehörden, wenn sie Camus´ Werk regelmäßig als „verschwörungsideologisch“ bewertet. Das Konzept der plausible deniability läuft Gefahr zu einer Entlarvungsscholastik zu führen, die das zu ermittelnde Ergebnis bereits voraussetzt. Eine solche wäre in der Tat verfassungswidrig.
Hinweis: Teil 1 des Beitrages findet sich hier!
Beitragsbild / Symbolbild: nitpicker; Bild oben: Alexander Supertramp; Bild darunter: DesignRage; Bild unten: Christin-Klose / alle Shutterstock.com
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