Von Jakob Maria Mierscheid

Eine jüngste wissenschaftliche Stellungnahme für den Bundestag von Verfassungsrechtlern zur Möglichkeit eines AfD-Verbots liest sich wie ein kraftvolles politisches Statement. Angereichert wird es um juristische Textbausteine, die die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zur Frage des ethnisch-kulturellen Volksbegriffs und der Menschenwürdegarantie allenfalls verkürzt wiedergeben. Ziel der Stellungnahme war es offenbar so etwas wie einen rechtswissenschaftlichen Konsens über die Verfassungswidrigkeit der AfD zu suggerieren. So äußerte sich auch einer der beteiligten Verfassungsrechtler dahingehend, wie wichtig es gewesen sei, eine politisch möglichst breite Querfront von „konservativen“ bis „linken“ Staatsrechtler zu formen.

Bloße Lippenbekenntnisse?
Der angestrebte überparteiliche Konsens geht auf Kosten der juristischen Stringenz. Nicht überraschen kann, dass die Zugeständnisse an konservative Rechtsauffassungen sich als Lippenbekenntnisse erweisen. So heißt es an einer Stelle, dass das Grundgesetz auch nationalkonservative Positionen zulasse, die Grenze zur Verfassungsfeindlichkeit aber bei völkischem Denken überschritten sei. Aus Sicht der Autoren ist diese Schwelle früh überschritten. So sei etwa schon die ideelle Vorstellung von einer Nation, wie sie sich aus der deutschen Romantik ergäbe, eine völkische und somit verfassungsfeindliche Position. Dieser Kurzschluss mag einiges über den ideengeschichtlichen Bildungshorizont des Autorenkollektivs aussagen, festzuhalten ist jedenfalls, dass die deutsche Romantik im Unterschied zur völkischen Bewegung die Nation eben nicht auf ein biologisches Substrat zurückführte, sondern wie der Dichter Stefan George im Anschluss an die Epoche der Romantik in seiner Lyrik betonte, Deutschland in der Begegnung von Hellas, Rom und Germanien seinen eigentlichen Ursprung habe. Doch zurück zur Prosa des Verfassungsrechts:

So werden dem verfassungsrechtlichen Maßstab aus dem NPD-Verbotsverfahren im Jahre 2017 zur Konkretisierung des Schutzguts der freiheitlich demokratischen Grundordnung weitere sich an postmoderne Identitätsdebatten anlehnende Schutzgüter hinzugefügt. Breiten Raum nimmt daher auch die angebliche „LGBTQ“-Feindlichkeit der AfD ein. Dabei gliedert sich das Gutachten in drei Kapitel auf. Nacheinander werden die verfassungsschutzrechtlichen Hauptvorwürfe behandelt:

  1. Ethnisch-kultureller Volksbegriff als Verstoß gegen Menschenwürdegarantie und Demokratieprinzip
  2. Verhältnis zu anderen (benachteiligten) Minderheiten
  3. Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates und seiner Repräsentanten

Im Anschluss werden zur Glaubhaftmachung Zitate von AfD-Politikern angeführt. Bereits der Umfang von dreißig Seiten spricht nicht für eine umfassende Begutachtung des Sachverhalts. Die nachfolgenden Ausführungen beschränken sich daher auf die rechtlichen Aspekte der Stellungnahme. Diese veranlasst zu einer grundlegenden dogmatischen Klarstellung:

I. Voraussetzungen für einen erfolgreichen Verbotsantrag
Das Parteiverbot ist in der „Parteistaatsklausel“ des Art. 21, genauer Art. 21 II GG geregelt:

Art. 21 GG

(1) Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muß demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben.

(2) Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig.

(3) Parteien, die nach ihren Zielen oder dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgerichtet sind, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind von staatlicher Finanzierung ausgeschlossen. Wird der Ausschluss festgestellt, so entfällt auch eine steuerliche Begünstigung dieser Parteien und von Zuwendungen an diese Parteien.

(4) Über die Frage der Verfassungswidrigkeit nach Absatz 2 sowie über den Ausschluss von staatlicher Finanzierung nach Absatz 3 entscheidet das Bundesverfassungsgericht.

(5) Das Nähere regeln Bundesgesetze.

Um sich der einschneidenden Rechtswirkung des Parteiverbots zu vergegenwärtigen, muss man sich klar machen, welche herausgehobene Stellung die Parteien im Grundgesetz haben. So entwickelte der Weimarer Jurist und spätere Verfassungsrichter Leibholz eine Parteinstaatsdoktrin, welche den Parteien eine quasi-institutionelle Scharnierfunktion zwischen Staat und Volk zuwies. Parteien sind demnach plebiszitäre Katalysatoren des Volkes und seiner politischen Interessengruppen. Leibholz` Parteienstaatsdoktrin wird in der bundesrepublikanischen Diskussion häufig als „gute“ demokratische Lehre in Abgrenzung zur „schlechten“ und undemokratischen Parteienstaatskritik Carl Schmitts apostrophiert. Dies ist eine ungenaue Pikanterie. Denn die Parteistaatsdoktrin entwickelte Leibholz in den zwanziger und dreißiger Jahren am Beispiel des faschistischen Staatsaufbaus in Italien. Jedenfalls ist der Parteienstaat im Grundgesetz – wie von Waldstein in seinem im Freiburger Standard rezensierten Aufsatz zum Begriff des Rechtsstaats herausgearbeitet hat – wesentliche Staatsideologie der Bundesrepublik.

Ein Verbot dieses quasiinstitutionellen Scharniers kommt demnach nur in Ausnahmefällen in Betracht. Das Parteiverbot ist eine innerstaatliche juristische Feindbestimmung. Formell muss der Antrag auf ein Verbot vom Bundestag oder Bundesrat oder der Bundesregierung gestellt werden. Die materiellen Hürden fächern sich in drei Tatbestandsvoraussetzungen auf:

  1. Verfassungsfeindliche Zielsetzung
  2. Aggressiv-kämpferische Haltung gegenüber der verfassungsgemäßen Ordnung
  3. Seit dem „NPD-Nicht-Verbotsurteil“: Potenzialität, das heißt Möglichkeit, die Schutzgüter der „FdGO“ zu beeinträchtigen

Wie das gesamte (negative) Verfassungsschutzrecht handelt es sich der Rechtsnatur nach um Gefahrenabwehrrecht. Für ein Tätigwerden der Verfassungschutzbehörden genügt daher grundsätzlich der sicherheitsrechtlich weite Begriff der abstrakten Gefahr. Eine abstrakte Gefahr liegt vor, wenn in Abgrenzung zum bloßen Gefahrverdacht genügend tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine Gefährdung der FdGO zu befürchten steht. Dementsprechend ist für einen erfolgreichen Verbotsantrag nicht vonnöten, dass die Verfassungsordnung bereits Schaden genommen hat. Allerdings muss seit dem letzten Urteil in einem Verbotsverfahren das Verbotsobjekt auch potenziell die Verfassung beeinträchtigen können. Diese zusätzliche, sich nicht aus dem Wortlaut des Art. 21 II GG ergebende Tatbestandsvoraussetzung wurde im Schrifttum vielfach als ein Zugehen des Bundesverfassungsgerichts auf die EMRK-Rechtsprechung gesehen. Jedenfalls ist damit das starre Tatbestand-Rechtsfolge-Schema der Verbotsnorm aufgehoben und zumindest einer groben Verhältnismäßigkeitskontrolle zugänglich.

II. Restriktives Schutzgut
Schutzgut des Verfassungsschutzrechts ist die freiheitlich demokratische Grundordnung. Alle Bundes-und Landesverfassungsschutzgesetze lehnen sich bei ihrer Definition an das SRP-Urteil des BVerfG an:

„Die freiheitlich demokratische Grundordnung ist eine Ordnung, die unter Ausschluss jeglicher Gewalt-und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes [..] darstellt.“

Im Kern verweist die Verfassungsjudikatur auf den grundgesetzlichen Dreiklang aus Menschenwürdegarantie, Demokratie und Rechtsstaat. Dieser verfassungsrechtliche Minimalkonsens ist restriktiv zu bestimmen. Denn das Grundgesetz kann durch verfassungsändernde Gesetze geändert werden. Es ist grundsätzlich nicht verfassungswidrig oder verfassungsfeindlich, Änderungen des GG im Wege der Gesetzgebung anzustreben. Geschützt werden also nur jene in Art. 79 III GG verklammerten Fundamentalprinzipien, die jeder Verfassungsrevision entzogen sind. Dabei genügt ein „fahrlässiger“ Verstoß gegen eines der Fundamentalprinzipien nicht. So erklärte das BVerfG viele Gesetze unter Hinweis auf die genannten Fundamentalprinzipien für verfassungswidrig, ohne dass daraus geschlossen werden könnte, dass der verantwortliche Gesetzgeber Verfassungsfeind sei. Lediglich die absichtsvolle Beseitigung eines der drei Fundamentalprinzipien, ohne welche die Verfassungsordnung nicht mehr freiheitlich wäre, ist Schutzgut des Verfassungsschutzrechts.

III. Ethnisch-kultureller Volksbegriff
Die Autoren behaupten an zahlreichen Stellen, dass ein ethnisch-kultureller Volksbegriff verfassungswidrig sei. Gestützt wird dies vornehmlich auf das NPD-Urteil und die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung zur Beobachtung der AfD. Dieser Bezug ist nur teilweise richtig. Denn gerade aus dieser Judikatur ergibt sich eine entscheidende Trennlinie: nicht verfassungsfeindlich ist es, das deutsche Volk im ethnisch-kulturellen Sinne bewahren zu wollen. Verfassungsfeindlich hingegen ist es, ethnische Nichtdeutsche mit deutscher Staatsbürgerschaft diskriminieren oder ausweisen zu wollen. Das OVG Münster hat genau dies in seinem jüngsten Urteil zur Beobachtung der AfD unterstrichen und damit die Vorinstanz des VG Köln, die diese verfassungsrechtliche Trennlinie aufgab, korrigiert. Denklogisch verkennt die Auffassung der Autoren, dass ein soziologisch und ethnisch-kulturell geprägter Volksbegriff für sich nicht verfassungswidrig sein kann. Vielmehr kommt es darauf an, welche Schlüsse daraus für den juristischen Begriff des Volkes folgen und welche konkreten politischen Maßnahmen daran geknüpft sind.

IV. Ethnos und Demos in der deutschen Verfassungsgeschichte
Die deutsche Staatslehre und Verfassungstradition beruht nicht auf dem Konzept einer reinen Willensnation. Nation, ethnos und demos standen seit jeher in einem engen Verweisungszusammenhang. Folglich haben in der bis heute dogmatisch nicht abgeschlossenen Weimarer Debatte über die Rechtsnatur der Verfassung und ihren Hüter alle vier Weimarer Giganten, Schmitt, Kelsen, Heller, Smend, trotz juristischer und politischer Unterschiede die relative Homogenität des Volkes als konstitutive Voraussetzung des demokratischen Verfassungsstaates erkannt. Exemplarisch sei ein Auszug aus Hellers Staatslehre von 1934 angeführt:

„Das Volk, von dem wir aus geschichtlichen wie systematischen Gründen die Nation unterschieden, darf nicht als Naturrasse, aber auch nicht als Geistgebilde bestimmt werden. […], noch weniger darf von ihm behauptet werden, es sei „Gemeinschaft, Gemeinschaft aber ist Geist.“ (Liermann, S. 17) Wie in aller gesellschaftlichen Wirklichkeit kann auch der Natur-Geist-Dualismus nur als ein dialektischer Verstanden werden.“ (Heller, Staatslehre S. 158)

Heller bezieht Stellung gegenüber zwei aus seiner Sicht verfehlten Konzeptionen des Volkes, nämlich einerseits gegen die biologische Reduktion, andererseits aber gegen die den natürlichen Fortsetzungszusammenhang leugnenden voluntaristischen Ansätze.

Dieser Auszug zeigt, dass der oft gescholtene ethnisch-kulturelle Volksbegriff keineswegs das Staatsvolk auf die Abstammung reduziert, sondern wie das Kompositum „ethnisch-kulturell“ nahelegt einen flexiblen und anthropologisch realistischen Ansatz zur Bildung von nationalen und politischen Gemeinschaften enthält. Mit Verabschiedung des Grundgesetzes durch den Parlamentarischen Rat riss diese Traditionslinie nicht ab: das GG enthält, wenn es vom Subjekt der Demokratie spricht, drei Varianten des Volksbegriffes: das „Deutsche Volk“ in Präambel, Artt. 1 II, 146 GG, das „Volk“ in Art. 20 II GG (Demokratieprinzip) und die „Deutschen“ innerhalb des Grundrechtskatalogs. Nationalstaats-und Demokratieprinzip wie der Grundrechtskatalog des GG setzen die Unterscheidung zwischen „innen“ und „außen“, zwischen Deutschen und Ausländern voraus.

Die Ausübung bestimmter Grundrechte sind nach dem Willen des Verfassungsgesetzgebers von der Zugehörigkeit zum deutschen Volke nicht zu trennen, da deren Ausübung nur Mitgliedern der konkreten nationalen Schicksalsgemeinschaft vorbehalten ist. Die Verfassung unterscheidet zwischen Jedermann-Grundrechten und Deutschen-Grundrechten. Dies ist richtig, denn das GG konstituiert den Nationalstaat des Deutschen Volkes. Auf die Frage, wer zum Staatsvolk gehört, antwortet das GG in Art. 116 I: das Staatsvolk besteht aus der Summe seiner Staatsangehörigen wie aus den Flüchtlingen oder Vertriebenen deutscher Volkszugehörigkeit (sic!). Näheres regelt das Staatsangehörigkeitsrecht. Im Hinblick auf die Normenpyramide kann Art. 116 I GG nicht die verfassungsgebende Gewalt i.S.d. Präambel regeln. Diese sieht vor, dass das Grundgesetz auf der verfassungsgebenden Gewalt des Deutschen Volkes beruht. Die „verfassungsgebende Gewalt des Deutschen Volkes“ ist keine lose ideologische Überwölbung eines Verfassungsgebungsprozesses, sondern eine juristische Kompetenznorm, die den pouvoir constituant des Volkes überpositiv voraussetzt (mwN Murswiek, Die verfassungsgebende Gewalt nach dem GG für die BRD, S. 146 ff; Murswiek, Präambel; in: Bonner Kommentar (2005, Rn 131-136, 175-179).

Daraus folgt, dass bereits vor dem Grundgesetz ein deutsches Volk existierte. Keine verfassungsrechtliche Vorschrift und kein einfaches Gesetz kann den pouvoir constituant bestimmen, sondern lediglich das vorhandene Subjekt der verfassungsgebenden Gewalt beschreiben. Anderenfalls wäre das deutsche Volk im Grundgesetzt nicht verfassungsgebende, sondern bereits verfasste Gewalt. Dies zeigt, dass über die Regelung des Art. 116 GG I hinaus, der ethnos für die Bestimmung des demos von Bedeutung ist. Historisch liegt dies daran, dass Deutschland relativ spät und nicht vollumfänglich den Prozess der Nationalstaatswerdung vollzog.

Aufgrund seines Selbstverständnisses als Abstammungs- und Kulturnation sahen sich auch die Deutschen außerhalb der Staatsgrenzen tendenziell als Deutsche, wie auch umgekehrt nicht zur deutschen Nation rechnende Völker wie die deutschsprachigen Schweizer sich durchaus der deutschen Kultur-und Geistesgeschichte verbunden fühlten. Das bundesdeutsche Vertriebenengesetz trägt dem von Heller genannten Natur-Geist-Dualismus (s.o.) in § 6 I BVFG Rechnung, indem es die deutsche Volkszugehörigkeit wie folgt definiert:

Deutscher Volkszugehöriger im Sinne dieses Gesetzes ist, wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird.

V. Kein westdeutscher Teilstaat
Das Grundgesetz gründet keinen westdeutschen Teilstaat, sondern setzt das seit 1870/71 bestehende völkerrechtliche Subjekt des deutschen Nationalstaats in materieller Voll- und territorialer Teilidentität fort:

„Das Grundgesetz geht davon aus, „dass das Deutsche Reich den Zusammenbruch 1945 überdauert hat und weder mit der Kapitulation noch durch Ausübung fremder Staatsgewalt in Deutschland durch die alliierten Okkupationsmächte noch später untergegangen ist“. Mit der Errichtung der Bundesrepublik Deutschland wurde nicht ein neuer westdeutscher Staat gegründet, sondern „ein Teil Deutschlands neu organisiert […]. Die Bundesrepublik Deutschland ist also nicht ‚Rechtsnachfolger’ des Deutschen Reiches, sondern als Staat identisch mit dem Staat ‚Deutsches Reich’, – in Bezug auf seine räumliche Ausdehnung allerdings ‚teilidentisch’, so dass insoweit die Identität keine Ausschließlichkeit beansprucht.“ (BVerfG, Urteil vom 31.07.1973, Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, 36. Band, 1 (15f.) = NJW 1973, 1539)

In allen Entscheidungen hat das BVerfG die Fortsetzung des Nationalstaats der Deutschen durch das GG bestätigt.

VI. Das Grundgesetz setzt die Unterscheidung von Deutschen und Ausländern voraus
Alle Versuche auf landes- oder kommunaler Ebene ein Ausländerwahlrecht einzuführen, sind zu Recht vor dem Bundesverfassungsgericht gescheitert. Denn das Wahlrecht ist Bürger-, nicht Menschenrecht, wie folgender Beschluss zeigt:

„Das Wahlrecht, durch dessen Ausübung das Volk in erster Linie die ihm zukommende Staatsgewalt wahrnimmt, diese Eigenschaft vorausgesetzt. Das bedeutet keineswegs, dass dem Gesetzgeber jede Einwirkung auf die Zusammensetzung des Volkes i. S. des Art. 20 II 2 GG verwehrt wäre […] Es trifft nicht zu, dass wegen der erheblichen Zunahme des Anteils der Ausländer an der Gesamtbevölkerung des Bundesgebietes der verfassungsrechtliche Begriff des Volkes einen Bedeutungswandel erfahren habe. Hinter dieser Auffassung steht ersichtlich die Vorstellung, es entspreche der demokratischen Idee, […] eine Kongruenz zwischen den Inhabern demokratischer politischer Rechte und den dauerhaft einer bestimmten staatlichen Herrschaft Unterworfenen herzustellen. Das ist im Ausgangspunkt zutreffend, kann jedoch nicht zu einer Auflösung des Junktims zwischen der Eigenschaft als Deutscher und der Zugehörigkeit zum Staatsvolk als dem Inhaber der Staatsgewalt führen.“ (BVerfG, NJW 1991, 162)

Das Junktim von Staatsgewalt und deutschem Staatsvolk spielt auch in der Rechtsprechung zur europäischen Integration eine Rolle. Seit dem Maastricht-Beschluss darf die europäische Integration nicht so weit gehen, dass über die Aushöhlung der Beteiligungsrechte der Abgeordneten des Deutschen Bundestages die demokratische Teilhabe im Ergebnis leerliefe. Mit anderen Worten: ein durch supranationale Institutionen entmachteter Bundestag ist zugleich die Entmachtung des Wahlvolkes und daher als Verletzung des Demokratieprinzips und der grundgesetzlichen Fundamentalentscheidung zur souveränen Staatlichkeit Deutschlands rechtswidrig.

VII. Das Grundgesetz ist kein universalistischer Vorgriff auf den (europäischen) Weltstaat
In seinem Lissabon-Urteil betont das Bundesverfassungsgericht, dass es dem Gesetzgeber nicht gestattet sei, die Bundesrepublik in einen europäischen Superstaat aufzulösen. Auch das in Art. 23 I GG ausgegebene Ziel der europäischen Integration setzt demnach die nationalstaatliche Souveränität Deutschlands voraus:

„Integration setzt den Willen zur gemeinsamen Gestaltung und die Akzeptanz einer autonomen gemeinschaftlichen Willensbildung voraus. Integration in eine freiheitliche Gemeinschaft verlangt aber weder eine der verfassungsrechtlichen Begrenzung und Kontrolle entzogene Unterwerfung noch den Verzicht auf die eigene Identität. Das Grundgesetz ermächtigt die für Deutschland handelnden Organe nicht, durch einen Eintritt in einen Bundesstaat das Selbstbestimmungsrecht des Deutschen Volkes in Gestalt der völkerrechtlichen Souveränität Deutschlands aufzugeben. Dieser Schritt ist wegen der mit ihm verbundenen unwiderruflichen Souveränitätsübertragung auf ein neues Legitimationssubjekt allein dem unmittelbar erklärten Willen des Deutschen Volkes vorbehalten.“ (BVerfG, NJW 2009, 2267)

VIII. Ambivalentes NPD-Urteil
Auch im von postnationalen Juristen gerne zitierten NPD-Urteil wird das Nationalstaatsprinzip nicht aufgegeben, lediglich nationalistischer Verengung und biologistischer Pervertierung entzogen. Der vom Senat gebildete Maßstab sorgt allein dafür, dass das Subjekt der nationalstaatlichen Demokratie des Volkes nicht durch eine politische Parteiung im Wege eines ethnizistischen Autismus von innen heraus aufgesprengt wird. So heißt es:

„Das Grundgesetz kennt einen ausschließlich an ethnischen Kategorien orientierten Begriff des Volkes nicht. Insoweit hat das BVerfG festgestellt, dass gem. Art. 20 II 1 GG das Volk, von dem die Staatsgewalt in der Bundesrepublik Deutschland ausgeht, „von den deutschen Staatsangehörigen und den ihnen nach Art. 116 I gleichgestellten Personen“(BVerfGE 83, 37 [51] = NJW 1991, 162) gebildet wird. Für die Zugehörigkeit zum deutschen Volk und den daraus sich ergebenden staatsbürgerlichen Status ist demgemäß die Staatsangehörigkeit von entscheidender Bedeutung. Dabei überlässt das Grundgesetz dem Gesetzgeber, wie sich aus Art. 73 I Nr. 2 und Art. 116 I GG ergibt, die Regelung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit. (vgl. BVerfGE 83, 37 [51f.] = NJW 1991, 162).“ (BVerfG, NJW 2017, 611)

Dem Einwand der damaligen Antragsgegnerin, sie strebe lediglich eine Rückkehr zum vorherigen bis zum Jahre 1999 gültigen Staatsbürgerschaftsrecht an, wies der Senat als Schutzbehauptung zurück, da die Ziele der NPD weit darüber hinausgingen. Umgekehrt bedeutet dies, dass das Bestreben einer Rückkehr zum vormaligen Staatsbürgerschaftsrecht nicht verfassungswidrig sein kann (scilicet). Ansonsten wäre die Bundesrepublik bis zum Jahre 1999 ein verfassungswidriger Staat gewesen. Die Reformgesetzgebung zum Staatsbürgerschaftsrechts im Jahre 1999 ist kein Schutzgut des Verfassungsschutzrechts. Im Gegenteil spendete das Schrifttum der Reform teils keinen Beifall. So kritisierte etwa Isensee die Umstrukturierung des Staatsvolks im Wege des Parlamentsgesetzes, und warnte vor einer Spaltung des demokratischen Subjekts in Auch-Deutsche und Nur-Deutsche. (Vgl. Isensee, Ein Staatsstreich des Parlaments; in: Welt v. 06.01.1999, abrufbar hier!)

Gerne wird der entscheidende Satz des NPD Urteils überlesen, dass das Grundgesetz keinen ausschließlich an ethnischen Kategorien orientierten Begriff des Volkes kennt. „Ausschließlich“ bedeutet exklusiv, das heißt keinen anderen als die Abstammung für Bestand und Erwerb der Staatsbürgerschaft anerkennenden Volksbegriff zu verfechten, in der Folge Staatsvolk und Volkstum, ethnos und demos gegeneinander auszuspielen. Fürderhin anerkennt das NPD-Urteil die Fortsetzung des Nationalstaatsprinzip im Grundgesetz und schließt ausdrücklich an die Judikatur zum Wahrungsgebot in Form des Wiedervereinigungsgebots als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts des Deutschen Volkes an. So verweist das NPD-Urteil auf folgenden Beschluss des Senats zum Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung in die DDR:

„Aus dem Wahrungsgebot folgt insbesondere die verfassungsrechtliche Pflicht, die Identität des deutschen Staatsvolkes zu erhalten. […] Die im Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes enthaltene Wahrungspflicht gebietet es auch, die Einheit des deutschen Volkes als des Trägers des völkerrechtlichen Selbstbestimmungsrechts nach Möglichkeit zukunftsgerichtet auf Dauer zu bewahren (vgl. E. Klein, NJW 1983, 2289 ff.; ders., JuS 1987, 279 ff.).“ (BVerfG, NJW 1988, 1313)

Entscheidender Anknüpfungspunkt für die Verfassungsfeindlichkeit der NPD war eben nicht deren Kritik an der Migrations-und Einwanderungspolitik, sondern die menschenwürdewidrige Verächtlichmachung von Ausländern und nicht ethnisch deutschen Staatsangehörigen, die sich zu Ende gedacht aus Sicht des BVerfG zu einer rechtsstaats-und menschenwürdigen politischen Praxis verdichten müsse:

Die Äußerungen überschreiten entgegen der Auffassung der Ag. auch die Grenze einer grundsätzlichen Kritik an der Einwanderungspolitik, da sie unmittelbar an die Migranten adressiert sind und diese verächtlich machen.“ (BVerfG, NJW 2017, 611)

IX. Der Maßstab zur NPD
Ein verfassungsrechtlich unhaltbarer Volksbegriff liegt aus Sicht des Senats dann vor, wenn

(1) Staatsangehörigkeit und ethnos miteinander in Deckungsgleichheit gebracht werden sollen,

(2) damit deutsches Volk im ethnischen Sinne und Staatsvolk im juristischen Sinne gegeneinander ausgespielt werden (Verstoß gegen das Demokratieprinzip) und

(3) sich daran menschenwürde-und rechtsstaatswidrige Maßnahmen (Verletzung von Art. 1 I 1 GG) knüpfen.

X. Staatsangehörigkeitsrecht und nationalstaatliche Demokratie
Deutsche im Sinne des Grundgesetzes sind, welche die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Diese wiederum wird im Staatsangehörigkeitsrecht geregelt. Daraus meinen viele offenbar schließen zu können, dass das Subjekt der deutschen Demokratie einfachgesetzlich bestimmbar ist. Doch ist ein solcher Schluss nicht überzeugend, wie ein Blick in die Vorschrift zeigt: So spricht auch Art. 116 I GG von der deutschen Volkszugehörigkeit der Vertriebenen. Dass das deutsche Volk allein einfachgesetzlich durch das Staatsangehörigkeitsrecht zu bestimmen ist, stellt einen methodischen Missgriff dar, da diese Auslegung auf einen normenlogischen Zirkelschluss und ein demokratietheoretisch problematisches Ideologem hinausläuft. Denn wenn Art. 20 II GG festlegt, dass alle Staatsgewalt vom Volke im Sinne des Staatsvolks ausgehe, es aber gleichzeitig Sache der Staatsgewalt sei, festzulegen, wer das deutsche Staatsvolk ist, wäre der Ursprung der Legitimationskette immer nur die Staatsgewalt selbst. Dies kann mit der Vorschrift des Art. 116 I GG, der die staatsbürgerliche Kontinuität des Wahlvolkes zwischen Weimarer Republik und neu entstandener Bundesrepublik sichern sollte, nicht gemeint sein.

Hinweis: Die weiteren Vorwürfe der verfassungsschutzrechtlich relevanten Delegitimierung des Staates sowie die als Beleg angeführten Zitate und deren zweifelhafte Auslegung durch das Juristenkollektiv werden im Folgebeitrag, erreichbar hier, analysiert werden.

Beitragsbild / Symbolbild: nitpicker; Bild oben: Alexander Supertramp; Bild darunter: DesignRage; Bild unten: Christin-Klose / alle Shutterstock.com

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