Von Roderich A.H. Blümel
Carl Schmitt – ein Name, der auch heute noch in konservativen Kreisen eine große Bedeutung besitzt und der weitgehend selbsterklärend ist. Neben anderen bedeutenden deutschen Denkern des 20. Jahrhunderts wie Ernst Jünger, Martin Heidegger und Oswald Spengler zählt er zu den Geistesgrößen, die, trotz aller Kritik, insbesondere in Fachkreisen und in nonkonformen intellektuellen Milieus, eine bleibende Wirkung entfalten konnten. Auch der Freiburger Standard hat in verschiedenen Artikeln schon auf Schmitt Bezug genommen. Trotz eines in den vergangenen Jahren wieder eher gesunkenen Interesses in der Fachpublizistik und der breiten Öffentlichkeit gilt Schmitt weiterhin als „der meistdiskutierte deutsche Jurist des 20. Jahrhunderts“, wobei Schwerpunkt und Umfang der Diskussion Schwankungen unterlag. Das Interesse beschränkt sich nicht nur auf Deutschland, in zahlreichen Übersetzungen werden seine Schriften weltweit veröffentlicht, von Washington bis Peking. Doch auch im Inland wird Schmitt als der „unzweifelhaft […] bedeutendste Mann auf dem Gebiet des Verfassungs- und Völkerrechts in Deutschland“ bezeichnet. In einer Zeit, in der die Auslegung der Verfassung zunehmend zum politischen Streitobjekt wird, in der die Freund-Feind-Unterscheidung im Parlament wahrnehmbarer wird und geopolitische Großräume um ihre Einflusszonen kämpfen, ist das erneute Interesse an einem der jüngsten Klassiker politischen Denkens – wie Bernard Willms ihn nennt – wenig überraschend. Überraschend ist dagegen vielmehr, dass immer noch keine umfassende Einführung in Leben und Denken Schmitts vorliegt, wie sie für zahlreiche andere Denker längst Standard ist.
Ein Versuch der Annäherung
Eine solche Einführung kann schon aus Platzgründen hier nicht geschehen, jedoch zumindest eine Überblick verschaffende Annäherung. Schmitt war nie bloß „Jurist“ und kann nicht nur als Jurist gelesen werden. Wie in einem der Standardwerke über ihn gleich zu Beginn betont wird, kann man die „Mehrdeutigkeit des Streitobjekts“ nicht verstehen, ohne auf die Vielschichtigkeit seiner wissenschaftlichen Arbeit einzugehen: „Es ist Rechtswissenschaft im engeren Sinne, es ist Geisteswissenschaft, gelegentlich Sozialwissenschaft und auch Theologie. Carl Schmitt war Staatsrechtler, aber ebenso Kulturkritiker und Geschichtsphilosoph.“ Schmitt bewegte sich mit Leichtigkeit zwischen verschiedenen Disziplinen und brachte juristische Perspektiven in die politische Philosophie ein und umgekehrt. In den 1920er-Jahren veröffentlichte er mit „Der Begriff des Politischen“ (1927) ein bedeutendes Werk der politischen Philosophie und präsentierte bereits 1928 seine „Verfassungslehre“, die bis heute eine zentrale Bedeutung in der Rechtswissenschaft hat. Diese interdisziplinäre Breite und Fülle seiner Schriften stehen einer breiten Rezeption entgegen. Die meisten Leser beschäftigen sich oft nur mit einzelnen Aspekten seines Werkes, ohne das Gesamtbild zu erfassen. Ein weiteres Hindernis bei der Auseinandersetzung mit Schmitt ist die politische Dimension seiner Arbeit, die eng mit seiner Rolle im Nationalsozialismus verknüpft ist. Das Verständnis seiner theoretischen Schriften ist kaum möglich, ohne sich auch mit seiner politischen Biographie auseinanderzusetzen – ein Umstand, der zuletzt wegen der manchmal unklaren Trennung seiner juristischen und politischen Gedanken eine besondere Komplexität aufweist. Hinzukommt, dass es eine „neutrale“ Schmittbetrachtung kaum gibt, die Beiträge zu ihm sind oft entweder Apologie oder Verurteilung. Schon die Frage, welche Rolle Schmitt am Ende der Weimarer Republik spielte, ist sehr umstritten und oft politisch aufgeladen: War Schmitt mit seinen Staatsnotplänen der letzte Verteidiger der Republik oder war er einer ihrer Totengräber? Schon diese einzelne Frage und die Bandbreite ihrer Beantwortung zeigt die Schwierigkeit einer Annäherung.
Das Denken in Begriffen
Schmitt zu verstehen erfordert nicht nur einen Überblick über sein Gesamtwerk, sondern auch eine besondere Sensibilität für seine juristische Methodik und die Bedeutung, die er den Begriffen beimisst. Für Schmitt sind Begriffe keine abstrakten Konzepte, sondern tragen eine klare politische und historische Bedeutung. Sie sind stets mit konkreten Situationen und letztlich mit einer „Freund-Feind“-Gruppierung verknüpft. Schmitt betonte, dass Begriffe wie „Staat“, „Republik“, „Gesellschaft“, aber auch „Souveränität“, „Rechtsstaat“ oder „Diktatur“ nur im Kontext ihrer politischen Implikationen verstanden werden können. Der deutsche Historiker Christian Meier, ein enger Freund Schmitts, berichtete, dass Schmitt Begriffe „sehen“ konnte und sie für ihn „Realitäten“ darstellten. Er nutzte seine umfassende humanistische Bildung und beherrschte sowohl Latein als auch Griechisch. Deren Kenntnis ist notwendig, um die historische Tiefe seiner Begriffe zu verstehen und zu vermitteln. Ein besonders prägnantes Beispiel dafür ist Schmitts Verwendung des Begriffs „Nomos“, der in seinem 1950 veröffentlichten Werk „Der Nomos der Erde“ eine zentrale Rolle spielt. Schmitt stellte fest, dass der Begriff „Nomos“ im Lauf der Zeit seine ursprüngliche Bedeutung verloren hatte und mittlerweile nur noch als ein abstrakter Begriff für Normen oder Gesetze verwendet wurde. Für Schmitt jedoch bezeichnete „Nomos“ weit mehr: Es steht für die „volle Unmittelbarkeit einer nicht durch Gesetze vermittelten Rechtskraft“, für ein „konstituierendes geschichtliches Ereignis“, das die Legitimität des Rechts überhaupt erst möglich macht. Dabei hat Schmitt wiederum eine eigene, präzise Differenzierung zwischen „Legalität“ und „Legitimität“ (über die er 1932 eine eigene Schrift veröffentlichte) entworfen. Bei zwei unscheinbaren Worten ergibt sich daher eine tiefere Ebene, wenn man die Bedeutung und Nutzung von Begriffen bei Schmitt kennt. Auf einzelne Aspekte des schmittschen Denkens soll hier besonders eingegangen werden.
Der Hüter der Verfassung
Schmitt veröffentlichte 1931 einen Aufsatz mit dem Titel „Der Hüter der Verfassung“, in dem er sich kritisch mit der Frage eines Verfassungsgerichts auseinandersetzte – einem Konzept, das in seiner Zeit stark diskutiert wurde und in vielen Ländern, darunter auch den USA, heute institutionalisiert ist. Schmitt lehnte die Idee eines Verfassungsgerichts grundsätzlich ab, da er befürchtete, dass solch ein Gericht sich selbst zu einem Gesetzgeber entwickeln könnte. Für Schmitt war das Verfassungsrecht vor allem eine politische Entscheidung des Souveräns und nicht die Aufgabe von Richtern oder Gerichten. Er wies darauf hin, dass die Anwendung einer Norm auf eine andere Norm qualitativ anders sei als die Anwendung einer Norm auf einen konkreten Sachverhalt. Ein Verfassungsgericht, das die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen überprüft, würde das Verfassungsrecht seiner politischen Entscheidungskraft berauben und damit den politischen Charakter der Verfassung aufheben. Schmitt sah in der Entstehung eines Verfassungsgerichts eine Gefahr für die politische Integrität des Verfassungsrechts und hielt es für notwendig, dass die politische Entscheidung in den Händen des Souveräns bleibe. Diese Kritik ist in der heutigen Diskussion über die Besetzung und die politische Unabhängigkeit von Verfassungsgerichten nach wie vor von Bedeutung – sei es in den USA, Polen oder Deutschland. Ein Artikel zum Bundesverfassungsgericht in seiner Rolle als „Hüter der Verfassung“ findet sich hier!
Großräume und Interventionsverbote
Schmitts Konzept der „Großräume“ ist ebenfalls von erstaunlicher Aktualität. In seinem 1939 veröffentlichten Werk „Völkerrechtliche Großraumordnung und Interventionsverbot für raumfremde Mächte“ formulierte Schmitt eine Theorie, die besagt, dass die Epoche der souveränen Nationalstaaten zu Ende gehe und durch geopolitische „Großräume“ ersetzt werde. Diese Großräume sind nicht bloße Staaten, sondern politische Einheiten, die nicht nur über ihren eigenen Raum herrschen, sondern auch ideologisch und kulturell definierte Einflüsse ausüben. Schmitt postulierte, dass diese Großräume keine Interventionsrechte von außen dulden sollten. Diese Theorie fand Anwendung auf den aktuellen Ukrainekrieg, in dem nicht nur die Ukraine als Nationalstaat betroffen ist, sondern auch größere geopolitische Fragen aufgeworfen werden – insbesondere die Frage, zu welchem Großraum die Ukraine gehört: dem russischen, dem europäischen oder einem westlichen Großraum. Schmitts Analyse der geopolitischen Großräume und des Interventionsverbots lässt sich ohne weiteres auf die heutige Situation anwenden und bietet einen wertvollen theoretischen Rahmen, um die geopolitischen Konflikte des 21. Jahrhunderts zu verstehen. Gleichzeitig zeigt sich auch, wo Schmitts Vorhersagen nicht eintrafen: Trotz allem ist der Nationalstaat noch immer der maßgebliche Akteur im Völkerrecht. Zudem lässt sich sehr diskutieren, ob etwa Russland oder China tatsächlich auch eine kulturelle und vor allem ideologische Großraumpolitik verfolgen, oder ob es sich bei diesen um reine Machtfragen handelt. Dennoch bleibt Schmitt ein komplexer Denker, dessen Werke auch heute noch relevante Fragen zu Recht, Politik und Internationalem Recht aufwerfen. Seine Theorien bieten wertvolle Einsichten in die Natur von Verfassungen, das Verständnis von politischen Entscheidungen und die Struktur geopolitischer Ordnung.
Beitragsbild / Symbolbild: ANDRANIK HAKOBYAN / Shutterstock.com; Bildquelle oben: The National Interest, Urheber unbekannt.
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