Von Albrecht Künstle
Welch ein Auftakt zur Sicherheitskonferenz im unsicheren München war das! Da erdreistete sich doch dieser neue Vizepräsident der USA, uns ins politische Gewissen zu reden – und das im Wahlkampf! So titelten jedenfalls sinngemäß die meisten Mainstreammedien. Doch wer im Kleingedruckten weiterlas, stellte fest, dass es zuerst Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gewesen war, der in seiner Eröffnungsrede dem transatlantischen Gast eine Breitseite verpasst hatte – worauf sich J.D. Vance dann mit seiner spektakulären Rede in Sachen Demokratieverständnis revanchierte. Außerdem sollte nicht vergessen werden, dass im US-Wahlkampf praktisch kein Tag verging, in dem nicht von Deutschland aus dem amerikanischen Wahlvolk empfohlen wurde, auf keinen Fall Trump zu wählen, sondern die Kandidatin Harris zu unterstützen. Aber wenn zwei das Gleiche tun, ist es aus Sicht der europäischen Politiker und der Mehrheit der Journalisten eben nicht das Gleiche.
Ein NATO-Europa ist auch ohne die USA mehr als wehrfähig
Erst am zweiten Konferenztag in München ging es dann um das eigentliche Kernthema Krieg und Frieden in der Ukraine und die Sicherheit in Europa, auf das hier näher eingegangen wird: Wer hat eigentlich das Sagen in der NATO? Bisher durfte man annehmen, die USA bestimmen alleine, wo es langzugehen hat. So war es offensichtlich auch, was die Orientierung der Militärquote am jeweiligen Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Länder anbelangt. Gab es jemals eine Abstimmung in der NATO, wonach zwei Prozent des jeweiligen BIP der Mitgliedsländer gelten solle? Dies wird mit Nichtwissen bestritten. Wir wurden gerügt, weil Deutschland als bevölkerungsstärkstes Land in Europa „nur“ 1,3 Prozent des BIP für Rüstung ausgab. Fakt ist: Wären die Rüstungsmilliarden nicht überwiegend in der Beschaffungsbürokratie der Bundeswehr verbraten worden oder für dubiose Aufträge, die durch von Kanzlerin Merkel ernannte „Verteidigungsministerinnen“ (eine Tradition, die Kanzler Scholz für die SPD übernahm) für alles Mögliche erteilten – darunter auch Prestigeobjekte wie die Gorch Fock et cetera –, dann hätten wir weit mehr Material in den Arsenalen. Und mehr Soldaten sowieso, wäre die Wehrpflicht nicht vor 15 Jahren durch den CDU-Überflieger zu Guttenberg abgeschafft worden.
Wer bietet mehr?
Warum aber versuchte Deutschland dann nicht mit gemeinsam anderen NATO-Mitglieder, einen Satz von beispielsweise 1,5 Prozent zu beschließen? Inzwischen sind es – mit “Sondervermögen” (zweckgebundene Staatsschulden) finanzierte – 2,12 Prozent. Doch plötzlich soll die Zielmarge bei 3,6 Prozent liegen. Wieder ohne Abstimmung? Wobei dies dem „Großmaul“ Trump auch wieder nicht genügt – denn der fordert nun sogar fünf Prozent. Obwohl er selbst keine 3,6 Prozent beibringt. Wer bietet mehr? Der AfD, zumindest ihrer Kanzlerkandidatin Alice Weidel, sagt man nach, sie wolle eine deutliche Aufstockung der Verteidigungsausgaben in dieser Größenordnung – und das, obwohl die AfD neben dem BSW und der Linken für eine Beendigung des Krieges und eine Friedenslösung mit Russland eintritt. Hat sich CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz diesen Februar schon dazu geäußert? Wie viele Taurus-Marschflugkörper will er für die demnächst dann zig Milliarden mehr an Rüstungsbudget denn bauen lassen und der Ukraine schenken? Würden sie auf Russland abgefeuert, könnte dieses mit Angriffen der neuen (nuklearwaffenfähigen) Hyperschallrakete Sarmat RS-28 auf deutsche Rüstungsstandorte antworten. Zwei Weltkriege haben wir bereits verloren. Wollen wir ernsthaft einen weiteren großen Krieg provozieren?
Trump mag sein Land weiter aufrüsten, unsere zwei Prozent reichen
Recht hat Trump mit seiner Aussage, dass Europa auf eigenen Füßen stehen muss. Aber das tun wir bereits – und wir können sogar laufen. Was würde passieren, wenn Trump sein „America first“ auch militärisch umsetzten würde und Europa sich allein behaupten müsste? Verteidigen gegen wen – gegen Russland? Als hätten wir nicht genügend neue Feinde im Innern! Wären wir dieser Aufgabe denn gewachsen? Ja, definitiv – denn Putin wird auch nach drei Jahren Krieg nicht einmal mit der Ukraine fertig. Diese Krieg dauert schon jetzt mehr als halb so lange wie der Zweite Weltkrieg. Mit geringfügigen Unterschieden: In nur einem Jahr legte die Wehrmacht gut 1.200 Kilometer bis kurz vor Moskau und 1.800 Kilometer bis zur Wolga zurück und eroberte nicht nur die komplette Ukraine, sondern Weißrussland, das Baltikum und einen Großteil des europäischen Territoriums Russlands gleich mit. Putin gelang es nicht einmal, einen schmalen Streifen von wenigen Dutzend Kilometern Tiefe in der Ostukraine sowie die von ihm annektierten unabhängigen Volksrepubliken Donezk und Luhansk vor der eigenen Haustüre zu halten. Und dieses Russland soll Europa gefährlich sein und allen Ernstes vorhaben, die osteuropäischen NATO-Länder zu attackieren? Wer so etwas behauptet, hat nur nichts verstanden über die spezifischen Hintergründe des Ukraine-Krieges.
Aufschlussreicher Kräftevergleich zwischen der NATO ohne USA und Russland
Ich verstehe gewiss nicht so viel von Waffensystemen wie etwa der grüne Anton „Panzer-Toni“ Hofreiter oder die Rüstungslobbyistin Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Aber ich bin ein Analytiker, ein Zahlenmensch – und Zahlen lügen nicht. Jedenfalls seltener als Politiker! Die Auswertung fei zugänglichen Materials zeigt folgende Ergebnisse: Die USA tragen immerhin 67 Prozent der Militärausgaben der NATO, 33 Prozent entfallen auf die anderen Mitgliedsländer. Wie aber fällt der Vergleich mit Russland aus? Mit den USA ist die NATO Russland vielfach überlegen, wie diese Zahlen zeigen. Aber wie sähe es aus, wenn Europa auf sich alleine gestellt wäre? Für einen Näherungswert, wenn man keinen Zugang zu den tatsächlichen Zahlen hat, sind die Gesamt-NATO-Zahlen um den US-Anteil von 67 Prozent zu reduzieren. Somit ergibt sich folgender Vergleich zwischen Europa (jeweils erstgenannte Zahl) und Russland (jeweils zweitgenannte Zahl):
- Militärisches Personal: 0,8 zu 1 = Europa ist unterlegen (wobei sich die Frage stellt, ob die russischen Soldaten aus dem Jahr 2023 alle noch leben; abgesehen davon: mit seinen 1.320.000 Soldaten muss Russland unglaubliche 62.000 Kilometer Grenzen sichern)
- Luftwaffe insgesamt: 1,5 zu 1 = Europa ist deutlich überlegen
- davon Tankflugzeuge: 11,4 zu 1 = Europa ist haushoch überlegen (für Verteidigung braucht man gar keine solchen Tankflugzeuge)
- davon Hubschrauber: 1,8 zu 1 = Europa ist stark überlegen
- Raketen: fehlen in den Statistiken seltsamerweise
Bei den Landstreitkräften ergibt sich heterogenes Bild:
- Kampfpanzer: 0,66 zu 1 = Europa ist unterlegen (wobei schon billige Panzerfäuste die teils antiquierten russischen Panzer außer Gefecht setzen)
- Panzerfahrzeuge: 2,4 zu 1 = Europa ist stark überlegen (wobei die russischen Modelle eher “fahrende Särge” sind)
- Artillerie: ca. 0,25 zu 1 = Europa ist deutlich unterlegen (welcher Art und in welchen Bereiche, geht aus den Daten nicht hervor)
Bei den Seestreitkräften sieht die Lage wie folgt aus:
- Flugzeugträger: 11 zu 1, Europa ist massiv überlegen (für Russland zählt destasis nur einen Träger, siehe oben; hingegen sind es auf NATO-Seite noch viel mehr, nämlich 32 einschließlich der Trägerflotte der USA und anderer nichteuropäischer NATO-Staaten) Doch Europa dominiert hier auch ohne die USA Russland haushoch; abgesehen davon, dass Träger eigentlich nur Invasoren benötigen)
- Zerstörer: 3,3 zu 1 = Europa ist stark überlegen (allerdings wird dieses Schiffstyp laut Eigenbezeichnung nicht für Verteidigung gebraucht, sondern zur Zerstörung)
- Fregatten: 3,5 zu 1 = Europa ist stark überlegen (vielseitige Kriegsschiffe, selten für Verteidigung genutzt)
- U-Boote: 0,8 zu 1 = Europa ist leicht unterlegen (U-Boote werden allerdings vor allem im Nordatlantik und Eismeer gebraucht, in Europa kaum)
- Patrouillenboote: 1,3 zu 1 = Europa ist leicht überlegen (dieser Schifftyp ist zur Beobachtung und Verteidigung durchaus nötig).
Bleiben noch die Nuklearwaffen
Hier herrscht ein nachgerade furchterregendes Gleichgewicht des Schreckens mit jeweils über 5.000 Sprengköpfen auf US- und russischer Seite. Als einzige Europäer verfügen Briten und Franzosen über strategische Atomwaffen, wobei die Overkill-Kapazitäten auch bei weit geringerem Mengenverhältnis fatal sind. Verteidigen lässt sich damit sowieso kein Land – sondern nur opfern.

Taurus-Raketen.
Das größere Problem ist die Türkei
Das größere Problem für uns innerhalb der NATO sind aber nicht die USA unter Trump – sondern die Frage: Wie halten wir es mit der Türkei? Ein NATO-Mitgliedsstaat, der rein gar nichts mit den Interessen am Nordatlantik zu tun hat, sondern sein eigenes Ding in Vorderasien und Nordafrika dreht. Unsere Werte werden von Erdogan nicht verteidigt, sondern mit Füßen getreten. Die Türkei gilt als unsicherster Kantonist der NATO. Sie wurde einst ohnehin nur als „unsinkbarer Flugzeugträger“ der USA gegen die Sowjetunion in das Bündnis aufgenommen. Aber den Warschauer Pakt gibt es nicht mehr und es wäre Zeit, die Türkei „in die Wüste zu schicken“. Auf die türkische Streitmacht unter Erdogan, der immer Streit sucht und uns perspektivisch nu Probleme bringt, sollten wir besser verzichten; denn im Ernstfall würde die Türkei uns eher in den Rücken fallen, als Europa zu verteidigen – Erdogans Konflikt mit Griechenland lässt grüßen! Der Austritt der Türkei aus der NATO wäre jedenfalls kein Grund für eine stärkere europäische Aufrüstung.
Es gibt keinen Grund für Mehrausgaben
Fazit: Es gibt eigentlich keinen objektiven Grund, unsere Militärausgaben zu verdoppeln – selbst dann nicht, wenn sich die USA tatsächlich aus dem Staub machen sollten. Es gäbe mit einem Militärbündnis ohne USA nur in wenigen Waffengattungen Nachholbedarf. Würde diese Lücke jedoch geschlossen und genau das getan – also im Detail aufgerüstet –, dann sähe sich Russland wahrscheinlich seinerseits gehalten, im Bereich der vielen unterlegenen Waffen nachzurüsten, was ihm natürlich aufgrund der geringeren Wirtschaftskraft schwerer fiele als uns. Aber ein Volk, das schon im vergangenen Weltkrieg die größten Opfer bringen musste, würde wohl auch den neuen Rüstungswettlauf durchstehen. Die Frage ist, wer solch einen neues Wettrüsten wirklich will.
Bei alldem stellt sich eine grundsätzliche Überlegung
„Wie sollen wir über Verteidigungsausgaben urteilen, wenn wir uns nicht einig sind, was genau wir eigentlich verteidigen wollen?“ Mit dieser Kernfrage brachte der amerikanische Vizepräsident auf der Münchner Sicherheitskonferenz ein grundlegendes Problem auf den Punkt. Erst nachdem ich mir diese Arbeit machte, stieß ich auf diese Ausarbeitung von Axel Mayer, was angenommene Militärausgaben von fünf Prozent des BIP tatsächlich bedeuten würden, erstellt von einem früheren Mitstreiter aus meinem geliebten Südbaden. Dies sollte man sich ergänzend zu meiner Recherche ebenfalls anschauen.
Hinweis: Der Autor veröffentlicht seine Beiträge zuerst auf seiner eigenen Internetseite, die hier zu erreichen ist, und hier!
Beitragsbild / Symbolbild und Bild oben: Svet foto; Bild unten: e-crow / beide Shutterstock.com
Abonnieren Sie auch unseren Telegram-Channel unter: https://t.me/Freiburger74Standard
Hinterlassen Sie einen Kommentar