Von Klaus Schäfer

Eine Anklage wegen Diebstahls wurde am 13. Juli im Amtsgericht Freiburg verhandelt. Dem deutschen Staatsbürger Benjamin B. wurden von der Staatsanwaltschaft, vertreten durch die Referendarin Frau Tahirukaj, Diebstahl in mehreren Fällen vorgeworfen. Was zunächst nur nach ein paar Diebstählen mit überschaubarem Gegenwert aussah, entpuppte sich im Laufe der Verhandlung als schier unendlicher, hoffnungsloser Fall von Rauschgiftbeschaffungskriminalität zum eigenen Gebrauch. 

Was lag vor? Die Anklage…
Zunächst listete die Staatsanwaltschaft fünf Fälle auf, in welchen der Angeklagte unbefugterweise Geld mit der Geldkarte eines Dritten an einem Geldautomaten abgehoben hatte. Der Schaden belief sich auf rund 600  Euro. Der Bestohlene war ein älterer Herr, der B. kostenlos Obdach in seiner kleinen, bescheidenen Wohnung gegeben hatte. Es folgte der Vorwurf, in einer sozialen Einrichtung einen dort herumliegenden Rucksack entwendet zu haben. Der Entschluss zur Tat kam dem Angeklagten spontan. In dem Rucksack befand sich unter anderem ein Smartphone im Wert von ca. 400 Euro. Der Angeklagte hatte beabsichtigt, das Handy zu verkaufen. Zwar nannte er der Besitzerin des Rucksacks den Ort, an welchem er diesen zurückgelassen hatte, jedoch enthielt er den Personalausweis der Besitzerin nicht mehr. Schließlich kam noch ein dritter Anklagepunkt hinzu, welchen die Richterin, Frau Bachmann, erst am Tag vor der Verhandlung zugestellt bekommen hatte. Hierbei handelte es sich um den Diebstahl eines Parfüms im Wert von knapp 70 Euro in einem Freiburger Warenhaus. Die Security konnte den Dieb stellen und ihm das Parfüm abnehmen. Ungünstig für die Beurteilung der Straftaten kam hinzu, dass B. diese während der Bewährungszeit nach seiner Entlassung aus der Haft im Herbst vergangenen Jahres begangen hatte. 

Die Verhandlung – das Vorstrafenregister
Die drei Anklagepunkte wurden nun von Frau Bachmann abgearbeitet. Es fiel auf, dass der Angeklagte sowie sein Pflichtverteidiger, Rechtsanwalt Markert, die Tatvorwürfe nicht bestritten. Vielmehr zeigte B. während der gesamten Verhandlung Reue, bekannte sich zu seiner Schuld, beantwortete die Fragen der Richterin offen, höflich und kooperativ. Schnell wurde ersichtlich, warum B. die Taten begangen hatte. Grund war der Bedarf an Mitteln zur Beschaffung von Rauschgift. Den täglichen Bedarf schätzte er auf 40 bis 50 Euro, also weit über 1000 Euro im Monat. War für das Publikum zunächst nicht ersichtlich, warum die Richterin zu Anfang der Sitzung den Zeitrahmen auf gut drei Stunden angesetzt hatte, wurde der Hintergrund bald klar: das Bundeszentralregister enthielt nahezu 30 Eintragungen an Straftaten. Diese „Karriere“ begann der Angeklagte im Alter von 18 Jahren. Die im Bundeszentralregister hinterlegten Fälle ergaben eine schier unendlich scheinende Liste von Diebstahl, Hausfriedensbruch, Wohnungseinbruch, Sachbeschädigung, in einzelnen Fällen mit Körperverletzung, versuchter Erpressung, veruntreuender Unterschlagung, Urkundenfälschung, unerlaubten Handels mit Betäubungsmitteln sowie gefährlicher Körperverletzung. Diese Liste wurde immer wieder durch Inhaftierungen von bis zu 16 Monaten unterbrochen, meistens in der JVA Freiburg, einmal auch in Frankfurt/Main. Die Verurteilungen waren neben Freiheitsentzug Geldstrafen in der Größenordnung von 30 bis 85 Tagessätzen, teilweise wurden die Strafen zur Bewährung ausgesetzt. Diese Liste passte so gar nicht in das Bild, das sich das Publikum zunächst von dem Angeklagten gemacht hatte, der durch das oben erwähnte Verhalten anfangs einen ordentlichen Eindruck vermitteln konnte. 

Private und berufliche Situation des Angeklagten
Des Rätsels Lösung ergab dann die Befragung nach der persönlichen Situation des Angeklagten. Da von der Verteidigung und von B. die vorgeworfenen Taten nicht bestritten wurden, verblieb für die Historie des Angeklagten sowie für seine derzeitigen Lebensumstände viel Zeit. Das Publikum hatte den Eindruck, dass die Richterin bemüht war, für B. einen Weg heraus aus dem Kreislauf von Sucht, Straftat und Inhaftierung zu finden. Man entnahm der Befragung, dass B. unter schwierigen Familienverhältnissen aufgewachsen war und eine Förderschule besucht hatte. Diese beendete er nach neun Jahren ohne Hauptschulabschluss. Eine berufliche Ausbildung wurde nie begonnen. Im Alter von 16 Jahren begann er mit dem Konsum von Drogen, befand sich unter anderem für gut vier Monate in Frankfurt/Main auf der Straße. Das Publikum erfuhr, dass B. eine 14jährige Tochter hat, die bei der Mutter lebt. Zu Letzterer hat er Kontakt. Mutter und Tochter befürworten eine Kontaktaufnahme zu B. Der Angeklagte hat auf diese bis jetzt jedoch verzichtet, da er sich der Tochter nicht in seinem derzeitigen Zustand zeigen möchte. Ferner entnahm man der Befragung, dass B. zurzeit in einer Art betreuter Einrichtung wohnt sowie von Sozialarbeitern und verschiedenen Hilfevereinigungen wie der OASE und der Heilsarmee mit Rat und Tat, aber auch finanziell unterstützt wird. Interessant waren die auf Bitte der Richterin gegebenen Ergänzungen durch die Bewährungshelferin. Der Angeklagte sei im Grunde genommen bereit zur Zusammenarbeit. Er möchte von seiner Sucht loskommen und ist bereit, einen Entzug zu machen. Jedoch sind die Phasen großer Bereitschaft, in ein ordentliches Leben zu kommen und die gesetzten Besprechungstermine einzuhalten, immer wieder durch Phasen des „Abtauchens“ unterbrochen, in welchen er auf nichts mehr reagiert, also nicht ansprechbar ist. Der Grund hierfür sei Scham, die in solchen Phasen aufkomme und ihn daran hindere, sich gegenüber Dritten sehen zu lassen.

Die Plädoyers
Die Staatsanwaltschaft würdigte das kooperative Verhalten des Angeklagten sowie die Tatsache, dass er alle Taten gestanden habe. Jedoch habe es diese gegeben und das auch noch innerhalb der Bewährungsfrist. Ferner verwies sie auf das lange Vorstrafenregister. Die Verteidigung unterstrich die Tatsache, dass der gestohlene Rucksack nebst Inhalt zurückerstattet wurde sowie das Parfüm im Warenhaus verbleiben konnte. Auch sie betonte die Kooperation des Angeklagten mit dem Gericht. Rechtsanwalt Markert hob hervor, dass B. bereit sei, dem Herrn, mit dessen Geldkarte er mehrfach illegal Bargeld am Bankautomaten geholt hatte, die Summe in Raten von 30 Euro monatlich zurückzubezahlen. 

Das Urteil
Wie alle Juristen zuvor erwähnte die Richterin die Kooperationsbereitschaft des Angeklagten sowie dessen offensichtlichen Willen, in ein normales, ziviles Leben zurückzukehren. Aus juristischen Gründen wog schwer das wiederholte Abheben am Geldautomaten. Für den Diebstahl des Rucksacks mit dem Smartphone verhängte sie drei Monate Haft und für den Diebstahl des Parfüms einen Monat. Negativ wirkten sich die Tatsache, dass die Taten während der Bewährungsfrist begangen wurden sowie das lange Register von Straftaten aus. So ergab sich ein Urteil von einem Jahr Freiheitsentzug. 

Ein paar Gedanken
Während der Verhandlung nur unterschwellig erwähnt, jedoch offensichtlich war die Tatsache, dass die starke Abhängigkeit des Angeklagten von Drogen Auslöser des ganzen, sich nun schon über zwei Jahrzehnte hinziehenden Dilemmas ist. Wie oben erwähnt, liegt sein monatlicher Bedarf für Rauschgift bei weit über 1000 Euro. Für eine Person, die in großen Teilen ihres Lebens von staatlichen Leistungen abhängig war, reichen diese bei weitem nicht aus, um den finanziellen Bedarf hierfür zu decken. Folglich muss ein solcher Drogenabhängiger sich das Geld hierfür beschaffen, legal oder illegal. Beschaffungskriminalität ist die Folge. Ein Kreislauf, der ohne einen eisernen Willen, den Entzug durchzuhalten und anschließend „trocken“ zu bleiben, ins Unendliche läuft. Sicherlich, Einzelne schaffen es, kehren in ein ziviles Leben zurück. Aber wie heißt es doch so schön oder so traurig: „Ausnahmen bestätigen die Regel“. Generationen von Politikern, Juristen, Ärzten, Psychologen, Psychiatern, Apothekern, Sozialarbeitern, Bewährungshelfern rund um die Welt haben sich hierum bemüht, bis dato ergebnislos.

Persönliche Bemerkung
Aus seiner engeren Verwandtschaft ist dem Verfasser dieser Zeilen bekannt, dass eine seiner Verwandten über Jahrzehnte hinweg Dutzende von Drogenabhängigen durch Gebet heilte. Inhaltlich sagte sie stets: „Nicht ich habe geheilt, nein, es war Jesus“. Sie war tiefgläubig. Die jeweilige Aufenthaltsdauer der Patienten in ihrem „Haus der Gnade“ betrug rund ein Jahr. Die Rückfallquote betrug ein Prozent. Eine Alternative? Ja, eine Alternative! Wer ist bereit?  Wer kann etwas Vergleichbares aufbauen?

Beitragsbild / Symbolbild: corgarashu / Shutterstock.com, oben: Salivanchuk-Semen / Shutterstock.com

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