Von Jakob Maria Mierscheid

Teil 2 des Beitrages:

Israel als Staatssubjekt
Israel ist mit dem UN-Teilungsplan und seiner Unabhängigkeitserklärung im Jahre 1948 zum völkerrechtlichen Subjekt in Form des Nationalstaates geworden. Im Rahmen der unmittelbar darauffolgenden militärischen Auseinandersetzungen – Angriff der arabischen Staaten 1948, Sechs-Tage-Krieg, Jom-Kippur Krieg, Siedlungspolitik, Besetzung des Gazastreifens – kam es allerdings zu beträchtlichen Erweiterungen des von Israel kontrollierten Gebiets. So ist auch bis heute der Status Jerusalems ungeklärt, weshalb außer den USA nur wenige Staaten Jerusalem als Hauptstadt anerkennen. Die besetzten Gebiete werden ebenfalls zumeist nicht als Teil des Staatsterritoriums anerkannt. Wesentlicher Grund für die Verurteilung Israels durch den Internationale Gerichtshof (IGH) für die Errichtung des sogenannten Sicherheitszauns war, dass dieser auf besetztem Gebiet errichtet wurde.

Auch in einem jüngeren im Auftrag der UN-Versammlung erstellten Gutachten kam der IGH zu dem Schluss, dass die Besatzung palästinensischer Gebiete und die dortigen israelischen Siedlungen gegen internationales Recht verstoßen. Indem Israel immer neue Siedlungen gründe, betreibe es eine faktische Annexion des Westjordanlands. Damit verstoße Israel gegen das völkerrechtliche Verbot, sich Land gewaltsam einzuverleiben.

Auch innenpolitisch spielt der Umstand der unfertigen Staatsgrenzen eine Rolle. Die Positionierung zum Umgang mit den besetzten Gebieten trennt in Israel die politischen Lager zwischen rechts und links. Während die fast verschwundene sozialdemokratische Linke auf Rückgabe der besetzten Gebiete drängt, äußert die nationalreligiöse Rechte immer offener das Endziel eines Großisraels notfalls auch im Wege der ethnischen Säuberung durchzusetzen.

Staatsrechtlich hat Israels oberste Judikatur den nicht abgeschlossenen Prozess der Staats-und Verfassungswerdung zum Anlass genommen, in einer viel beachteten selbstermächtigenden Entscheidung im Jahre 1995, sämtliches staatliches Handeln der Kontrolle des Obersten Gerichtshofs zu unterwerfen. Dies zeigt, dass nicht nur Kritiker im Ausland, sondern auch das Staatsrecht Israels selbst, sich des fragmentarischen und provisorischen Charakters des israelischen Staates gegenwärtig sind.

Der Gaza-Streifen als besetztes Gebiet
Israel hat seine Truppen im Jahre 2005 aus dem Gazastreifen abgezogen. Manche Stimmen sehen darin einen Rückzug aus dem Gebiet. Dies kann angesichts der weitgehenden Blockade und Kontrolle der Land-, Luft-, und Wasserwege um den Gazastreifen nicht überzeugen. Ein Rückzug setzt nämlich das Ende der militärischen Kontrolle voraus. Ein weitgehendes Abschneiden von Zufahrts- und Versorgungswegen stellt mitnichten eine Entlassung in die autonome Selbstverwaltung dar, sondern senkt lediglich die Kosten der militärischen Besatzung, da die direkte militärische Besatzung immer auch mit einem höheren Verbrauch an militärischen Ressourcen verbunden ist. Zugleich entzieht sich der Besatzer seiner humanitären Schutzverantwortung, indem er die Bewohner einer nicht befriedeten Zone quasi sich selbst überlässt. Das israelische Besatzung im Gazastreifen ist somit als besonders „günstige“ Vorgehensweise zu bezeichnen, da der Besatzer alle politischen Vorteile der Besatzung genießt, ohne die Nachteile dieser in Kauf nehmen zu müssen.

Der Angriff der Hamas
Der Angriff der Hamas am 07. Oktober 2023 und die darüber ausbrechenden Kampfhandlungen sind in ihrer juristischen Einordnung umstritten. Dies liegt daran, dass die Hamas kein staatlich anerkannter Akteur ist. Damit fällt die militärische Auseinandersetzung aus dem Schema des zwischenstaatlichen Krieges heraus. Denkbar ist es somit, die Auseinandersetzung als internationalen bewaffneten Konflikt zwischen Israel und Palästina oder als nichtinternationalen bewaffneten Konflikt zwischen Hamas und Israel zu beschreiben. Problematisch ist, dass das Selbstverteidigungsrecht auf zwischenstaatliche Auseinandersetzungen zugeschnitten ist. Geregelt ist das staatliche Selbstverteidigungsrecht in Kapitel VII Artikel51 UN-Charta Dort heißt es:

„Diese Charta beeinträchtigt im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen keineswegs das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat. Maßnahmen, die ein Mitglied in Ausübung dieses Selbstverteidigungsrechts trifft, sind dem Sicherheitsrat sofort anzuzeigen; sie berühren in keiner Weise dessen auf dieser Charta beruhende Befugnis und Pflicht, jederzeit die Maßnahmen zu treffen, die er zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit für erforderlich hält.“

Nach den Anschlägen am 11. September 2001 auf das WTC in New York hatte sich der UN-Sicherheitsrat erstmals mit der Frage zu befassen, ob das Selbstverteidigungsrecht auch auf den Angriff privater Akteure anwendbar ist. Die erste Resolution des Sicherheitsrats löste das Problem, indem sie den Angriff vom 11. September als einen Angriff auf die internationale Sicherheit und den Weltfrieden wertete und das natürliche Selbstverteidigungsrecht der Staaten bekräftigte.

Diese Formulierung wurde von den USA und ihren Verbündeten so ausgelegt, dass der Verweis auf das staatliche Selbstverteidigungsrecht eine zumindest implizite Ermächtigung zur Kriegsführung gegen Staaten enthielt, denen terroristische Angriffe zurechenbar seien. Dies sahen die USA im Falle Afghanistans als erwiesen an. Die Offenheit der Formulierung der Resolution lässt aber auch andere Sichtweisen als vertretbar erscheinen. Insbesondere lässt sich aus der Resolution des Sicherheitsrats nicht die Feststellung entnehmen, dass der Staat Afghanistan der Urheber des Terrorangriffs sei. Jedenfalls verpflichten alle Konfliktformen die Parteien auf die Einhaltung der Regeln des humanitären Völkerrechts. Zu seinen ehernen Grundsätzen gehört die Unterscheidung von Kombattanten und Nichtkombattanten.

Mit ihrem Angriff vom 07. Oktober 2023 hat die Hamas durch Tötung und Geiselnahme von Zivilisten diese Verpflichtung eindeutig verletzt, indem ihre Kämpfer die Massakrierung israelischer Zivilisten als militärisches Mittel einsetzten. Gegen diesen Angriff auf zivile Nichtkombattanten durfte und musste Israel militärisch vorgehen. Fraglich sind die konstruktive Rechtsgrundlage und die Reichweite dieser:

Wie bereits angeführt, kommt das in Artikel 51 der UN-Charta statuierte Selbstverteidigungsrecht in Betracht. Diese Ausnahme vom Gewaltverbot wirkt allerdings nur so lange, bis der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen Maßnahmen nach Kapitel VII der UN-Charta beschlossen hat. Die in den Artikel 39-51 UN-Charta vorgesehenen Maßnahmen regeln stufenweise das kollektive Vorgehen der Staatengemeinschaft. Dies reicht von der Aufforderung zu einer friedlichen Konfliktbeilegung, über den Beschluss von Sanktionen bis zu einem militärischen Eingriff.

Das heißt, dass das staatliche Selbstverteidigungsrecht den Angegriffenen nicht auf Dauer zur Gewaltausübung berechtigt. So muss auch der von seinem Selbstverteidigungsrecht Gebrauch machende Staat, das für militärische Konflikte zuständige Organ des Sicherheitsrats unmittelbar von der Angriffslage und den ergriffenen Gegenmaßnahmen unterrichten.

Man mag an dieser Stelle aus „realistischer Sicht“ der Auffassung sein, dass ein solches Vorgehen aufgrund der politischen Spannungen im UN-Sicherheitsrat von vornherein aussichtlos sei und es für den Staat Israel unzumutbar sei, seine nationale Sicherheit einer völkerrechtlichen Institution zu überlassen. Ein solcher Einwand kann nicht überzeugen, da Israel bislang nicht einmal den Versuch unternahm, das rechtlich sanktionierte System kollektiver Sicherheit anzurufen. Im Gegenteil ist es so, dass Israel internationale Missionen wie die UN-Beobachtungsmission im Libanon und den umliegenden Gewässern als Belästigung ansieht und wiederholt ein feindseliges Verhalten gegenüber dem internationalen Truppenkontingent zeigte. So wurden wiederholt französische und deutsche Luft-und Wassereinheiten von israelischen Booten und Flugzeugen aus mit Abdrängungsmanövern, Sturzflügen und Schüssen bedrängt. Israel scheint daher allenfalls formal das System kollektiver Sicherheit zu unterstützen; praktisch unterläuft das Vorgehen Israels regelmäßig alle Versuche, die Konfliktherde im Nahen Osten in den völkerrechtlich vorgesehenen Bahnen einzuhegen.

Eine weitere Schwierigkeit ist, dass der Angriff der Hamas auf von Israel besetztem Gebiet stattfand. Die Berufung auf die territoriale Integrität Israels als Verteidigungsgrund ist somit in der Allgemeinheit dieser Aussage und hinsichtlich der Rechtsfolgen wenig überzeugend. Denn so könnte jeder Staat zunächst ein fremdes Gebiet besetzen, sodann dort zivile Siedlungen errichten, um dann dem Gegenangriff mit dem Selbstverteidigungsrecht zu begegnen. Allerdings versperrt nicht schon jede ursprünglich rechtswidrige Besetzung die Selbstverteidigung. So jedenfalls sahen große Teile der Völkerrechtslehre im Falklandkrieg zwischen Argentinien und Großbritannien ein Selbstverteidigungsrecht Großbritanniens als gegeben an.

Es kommt demzufolge entscheidend darauf an, inwieweit sich der tatsächlich oder vermeintlich ursprünglich rechtswidrige Zustand verfestigt hat. Während sich nach hier vertretener Auffassung im Disput um die Falklandinseln durchaus gewichtige Gründe für die Verteidigungshaltung Großbritanniens finden lassen, kann im Falle der israelischen Besatzung kein vertretbares Argument für eine Verfestigung gefunden werden. Im Gegenteil hat die internationale Judikatur – wie bereits dargestellt – die fortwährende Besatzungspolitik als völkerrechtswidrig erkannt. Die a limine geäußerte Berufung auf das Selbstverteidigungsrecht ist daher weder dogmatisch noch konstruktiv überzeugend.

Doch selbst wenn man das Selbstverteidigungsrecht Israels annähme, stellte sich die Frage nach der zeitlichen Grenze dessen. Denn das Verteidigungsrecht knüpft grundsätzlich an die Gegenwärtigkeit der Angriffsform an. Dass der Angriff der Hamas vom 07. Oktober noch fortdauere, wird niemand ernsthaft behaupten können. Allerdings gibt es Stimmen, die in der Fortdauer der Geiselnahme den subjektiven Willen der Hamas zur Vernichtung respektive zum Angriff auf das Staatsterritorium Israels zum Ausdruck kommen sehen (Vgl. etwa Herdegen).

Dies führt zu der Frage, inwieweit das staatliche Selbstverteidigungsrecht dem eigentlichen Angriff vorgelagert sein darf. Denkbar sind hierzu zwei vertretbare Positionen. Die eine Position stellt auf den Ausnahmecharakter staatlicher Gewaltanwendung ab. Demnach sei auch das staatliche Selbstverteidigungsrecht eng auszulegen und unmittelbar an den bereits begonnenen Angriff zu knüpfen (Randelzhofer, in: Simma, Art. 51 Rdnr. 39 mwN.; Cassese, International Law 2001, 310.)

Dem kann entgegnet werden, dass es dem Angreifer nicht zuzumuten ist, tatenlos den Angriffsvorbereitungen bis zur Abgabe des ersten Schusses zuzusehen. Somit kommt die hMíesige Meinung zutreffend zu der Auffassung, dass bereits unmittelbar bevorstehende Angriffe das staatliche Selbstverteidigungsrecht auslösen können (Vgl. Waldock, Recueil des Cours 81 (1952), 455 (498); Hailbronner, Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht (BerDGVR) 26 (1986), 49 (80ff.) mwN)

Das Unmittelbarkeitskriterium muss aber restriktiv ausgelegt werden. Denn wenn schon die staatliche Selbstverteidigung zeitlich vorgelagert ist, darf sie nur dann angewendet werden, wenn dem potenziell Angegriffenen, im Falle des Angriffs keine Zeit mehr verbliebe, die notwendigen militärischen Abwehrmaßnahmen zu treffen. Für diese Restriktion der Unmittelbarkeit streitet auch der Ausnahme-und Behelfscharakter der staatlichen Selbstverteidigung iSv Art. 51/Kap. VII UN-Charta.

Anderenfalls drohte die ausnahmsweise gestattete Durchbrechung des Gewaltverbots in ihr Gegenteil umgestülpt zu werden. So könnte jeder sich subjektiv als künftig angegriffen empfindende Staat mit Berufung auf präventive Selbstverteidigung zur Gewaltanwendung schreiten. Dies liefe dem Schutzzweck des gesamten Kap. VII der UN-Charta zuwider (ausführlich hierzu: Murswiek, Die amerikanische Präventivkriegsstrategie und das Völkerrecht; in: NJW, 2003, 1014).

Im Ergebnis kann die stete Berufung auf präventive Notwehrrechte seitens Israels nicht überzeugen. Auch im Hinblick auf das eingangs geschilderte tatsächliche Vorgehens Israels scheint es sich hierbei um eine notorische Schutzbehauptung Israels zu handeln, die dazu verwandt wird mit militärischen Mitteln, politische über die bloße territoriale Integrität hinausreichende Zielsetzungen zu verfolgen.

„Responsibilty2protect“ als Rechtgrundlage des israelischen Vorgehens?
In Betracht kommt daher das israelische Vorgehen mit der Figur der staatlichen Schutzverantwortung zu rechtfertigen. Diese koppelt die staatliche Souveränität in der Form des Gewaltmonopols mit dem staatlichen Willen und der Fähigkeit, die der souveränen Gewalt Unterworfenen tatsächlich auch zu schützen (sovereignity as responsibilty). Anwendungsfall dieser auf den Verweisungszusammenhang von Schutz, Trutz und Gehorsam abstellenden Rechtsfigur war der Fall Lybien im Jahre 2011, in welchem der Sicherheitsrat die Regierung Gaddafi ermahnte, seiner Schutzverantwortung gegenüber der Zivilbevölkerung auch im manifesten Bürgerkrieg nachzukommen.

Wendete man diese Rechtsdoktrin auf den gegenwärtigen Fall an, träfe Israel nicht nur eine Pflicht, die Siedler zu schützen, sondern gleichermaßen die physische und psychische Integrität der besetzten Palästinenser zu wahren. Eine zusätzliche Stütze findet diese Auffassung in der völkerrechtlichen Verpflichtung des Besatzers, die besetzte Zivilbevölkerung zu schützen. Aufgrund der beidseitigen Berücksichtigung von tatsächlicher Herrschaftsgewalt und Schutzverantwortung ist die Berufung auf die R2P wohl am ehesten geeignet das unmittelbare Eingreifen israelischer Streitkräfte nach dem 07.Oktober zu rechtfertigen. Die bis heute fortwährende Bombardierung und Massakrierung der Zivilbevölkerung kann allerdings durch keiner der genannten Varianten – Selbstverteidigung, antizipierte Selbstverteidigung, preemptive strike – gerechtfertigt werden.

Ergebnis

  1. Das in Artikel 51 UN-Charta festgeschriebene Verteidigungsrecht ist für den gegenwärtigen Konflikt zwischen Israel und der Hamas zu unscharf, als dass es schematisch angewendet werden könnte. Dogmatisch ist es für den zwischenstaatlichen Konflikt konzipiert. Die möglichen Abwehrrechte einer völkerrechtswidrigen Besatzungsmacht sind hierin gerade nicht geregelt.
  2. Selbst, wenn man Israel das Selbstverteidigungsrecht zuspräche, wäre die zeitliche Grenze der Gegenwärtigkeit überschritten.
  3. Am überzeugendsten ist es daher, die Rechtsgrundlage für Israels Vorgehen in der responsibiltiy to protect zu sehen.
  4. Die Rechtsfigur der responsibility to protect ermächtigt Israel zwar auch zur Anwendung militärischer Gewalt, doch erstreckt sich die Schutzverpflichtung auch auf die palästinensische Bevölkerung im Gaza-Streifen und den anderen besetzten Gebieten. Selbst wenn Israels Annahme, dass es sich dabei um eine in großen Teilen feindselige Bevölkerung handelt, die den militärischen Arm der Hamas tendenziell unterstützt, zuträfe, erlaubt dies nicht die gegenwärtigen, den Tatbestand des Völkermordes zumindest streifenden militärischen Maßnahmen zu ergreifen.

Es handelt sich um den zweiten Teil des Beitrages. Den ersten Teil finden Sie hier!

Beitragsbild / Symbolbild: lev radin; Bild oben: Syro / Bilden unten: Andy.LIU / alle Shutterstock.com

Abonnieren Sie auch unseren Telegram-Channel unter: https://t.me/Freiburger74Standard

Treten Sie dem Freiburger Standard bei

Wir senden keinen Spam! Erfahren Sie mehr in unserer Datenschutzerklärung.