Von Karl Richter

Das Kiewer Selenskyj-Regime wäre jetzt gut beraten, genau hinzuhören und die letzte Ausfahrt nicht zu verpassen. Denn neuerdings wird nicht mehr nur hinter verschlossenen Türen darüber spekuliert, daß es für die Ukraine bald ein böses Ende nehmen könnte. Bislang mußten sich westliche Militärexperten, die dem Kiewer NATO-Protektorat eine schlechte Zukunftsprognose ausstellten, von ihren Kollegen und den Mainstream-Medien gehässige Vorwürfe anhören, sie seien „Putin-Agenten“ oder ähnliches. Das ist jetzt vorbei. Selbst in Washington kann man den Kopf nicht länger in den Sand stecken. Mit der Ukraine geht es zu Ende. Für den Westen gilt es jetzt, zu retten, was noch zu retten ist. Viel ist das nicht mehr.

Mit der Ukraine geht es zu Ende
Man kann es als eine Art vorgezogener Regierungserklärung von US-Präsident Joe „Sleepy“ Biden interpretieren, wenn jetzt ausgerechnet das einflußreiche US-Journal „Foreign Affairs“ lauthals zum Rückzug bläst. Das Magazin wird von der renommierten Denkfabrik Council on Foreign Relations (CFR) herausgegeben und hat dieser Tage in einem Grundsatzbeitrag eine „Exit-Strategie“ für den Westen vorgelegt. Der Titel des Beitrags von Richard Haass und Charles Kupchan ist programmatisch: „Der Westen braucht eine neue Strategie in der Ukraine – Ein Plan für den Weg vom Schlachtfeld zum Verhandlungstisch“. Die Autoren bringen gleich eingangs den Umstand ins Gespräch, daß sich die Kiewer Regierung „der Grenzen der ausländischen Hilfe bewußt geworden ist“. Sie rufen die außerordentlich prekäre Situation der Ukraine nach über einem Jahr Krieg in Erinnerung und stellen fest: „Selbst aus ukrainischer Sicht wäre es unklug, stur auf einen umfassenden militärischen Sieg hinzuarbeiten, der sich als Pyrrhussieg erweisen könnte. Die ukrainischen Streitkräfte haben bereits über 100.000 [Mann] Verluste erlitten und viele ihrer besten Soldaten verloren. Die ukrainische Wirtschaft ist um rund 30 Prozent geschrumpft, die Armutsrate steigt, und Rußland bombardiert weiterhin die kritische Infrastruktur des Landes. (…) Die Ukraine sollte nicht die Selbstzerstörung riskieren, indem sie Ziele verfolgt, die wahrscheinlich unerreichbar sind.“ Eingeständnisse wie dieses waren bisher im Westen nur hinter vorgehaltener Hand zu hören. Daß eine derart vernichtende Lageeinschätzung nunmehr in „Foreign Affairs“ veröffentlicht wird, werten Beobachter der amerikanischen Politik-Szene als kaum verklausulierte Ankündigung eines bevorstehenden Kurswechsels.

Klare Empfehlungen
Das Journal empfiehlt der Kiewer Regierung weiter: „Angesichts der steigenden Kriegskosten und der Aussicht auf eine militärische Pattsituation lohnt es sich, auf einen dauerhaften Waffenstillstand zu bestehen, der einen neuen Konflikt verhindern und – noch besser – die Grundlage für einen dauerhaften Frieden schaffen kann.“ Denn: am Ende der ukrainischen Gegenoffensive (die seit Monaten angekündigt wird) „werden sogar die Vereinigten Staaten und Europa guten Grund haben, ihre erklärte Politik der Unterstützung der Ukraine ‚so lange wie nötig‘ aufzugeben“. Die Kosten des Konflikts, sowohl wirtschaftlich als auch militärisch, seien einfach zu hoch. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich diese Einsicht in den westlichen Planungsstäben und Chefredaktionen herumsprechen würde. Erst im Januar veröffentlichte ein anderer US-think tank, das Center for Strategic and International Studies (CSIS), eine ernüchternde Untersuchung über die amerikanischen Munitionsbestände aller Kaliber und Waffengattungen und mußte feststellen: die Arsenale sind leer. Und es wird Jahre dauern, sie wieder aufzufüllen. Eine ausgesprochen peinliche Perspektive, wenn Washington demnächst seinen Krieg gegen China vom Zaun brechen will.

Starker Tobak für Kiew
Die von Haass und Kupchan in „Foreign Affairs“ ins Gespräch gebrachte Verhandlungslösung ist angesichts der maximalistischen Kriegsrhetorik, die bis vor kurzem im Westen den Ton angab, starker Tobak für Kiew: ein Teil des Donbass, schlagen die beiden Autoren vor, solle Rußland überlassen und eine entmilitarisierte Zone eingerichtet werden. Ein Sicherheitsabkommen mit „einigen Ländern“ solle der Ukraine „zusätzlichen Schutz“ bieten. Darüber hinaus solle auch mit Rußland ein umfassendes Sicherheitsabkommen ausgehandelt werden, „das eine globale Konfrontation mit der NATO vermeidet“. Wir erinnern uns: nichts Anderes hatte Putin im Winter 2021/22 gefordert, als die NATO den Beitritt der Ukraine ankündigte. Washington hielt es nicht für nötig, auf die Gesprächsangebote aus dem Kreml auch nur zu antworten. Nach 100.000 gefallenen Ukrainern ist man offenbar klüger.

Druck auf Kiew unumgänglich
Die beiden „Foreign Affairs“-Autoren werden in ihrem Text noch deutlicher und machen kein Hehl daraus, daß die NATO erforderlichenfalls auf Kiew Druck ausüben müsse, falls man sich dort gegen eine Verhandlungslösung sperren sollte. Wörtlich: „Über ein Jahr lang hat der Westen der Ukraine erlaubt, den Erfolg zu definieren und die Ziele des Westens in diesem Krieg festzulegen. Diese Politik, unabhängig davon, ob sie zu Beginn des Konflikts sinnvoll war, hat sich nun erledigt.“ Inzwischen kollidierten die Ziele der Ukraine nämlich mit „anderen westlichen Interessen“. Die Kosten des Krieges stiegen, und die westliche Öffentlichkeit und ihre Regierungen würden der fortgesetzten Unterstützung der Ukraine überdrüssig. Man darf getrost hinzufügen: der US-Präsidentschaftswahlkampf 2024 wirft seine Schatten voraus. Keiner der Bewerber will den peinlichen Ukrainekrieg dann noch als lästigen Klotz am Bein haben.

Rückzug des Westens
„Foreign Affairs“ resümiert: der Verhandlungsansatz „mag für einige zu viel und für andere nicht genug sein. Aber im Gegensatz zu den Alternativen hat er den Vorteil, daß er das Wünschenswerte mit dem Machbaren verbindet.“ Das ist eine poetische Umschreibung für einen Rückzug des Westens auf ganzer Linie. Von einem „Ruin“ oder gar einer militärischen Niederlage Rußlands, die noch vor kurzem von westlichen Medien und Politikern gebetsmühlenartig als Kriegsziel beschworen wurde, ist plötzlich keine Rede mehr. Für den Westen wird es in den nächsten Wochen sehr schwer werden, auch nur sein Gesicht zu wahren. Er ist auf dem besten Wege, im Donbass sein Stalingrad zu erleben.

Hinweis: Der Beitrag erscheint ausnahmweise in alter Rechtschreibung. Beitragsbild / Symbolbild: KIngvarr / Shutterstock.com

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