Von Jakob Maria Mierscheid
Das Strafrecht ist repressiv. Es reagiert mit einer Sanktion als Rechtsfolge auf eine Rechtsgutsverletzung. Das Sicherheitsrecht ist präventiv. Es schützt Rechtsgüter der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vor Gefährdung, Störung oder Beschädigung im Vorfeld ihrer konkreten Verletzung. Man spricht vom Gefahrenabwehrrecht. So jedenfalls verläuft im Grundsatz die Trennlinie zwischen den beiden Teilbereichen des öffentlichen Rechts, dem Strafrecht einerseits dem Polizei-und Sicherheitsrecht andererseits. Strafen also zwischen Sanktion und Prävention?
Unklarheiten bleiben
Freilich verbleiben dennoch Unklarheiten: denn das Strafrecht dient auf vielfältige Weise dem Sicherheitsrecht. Es ist zum Beispiel strafbar, eine im Wege einer Ministerialverfügung verbotene Organisation wiederzugründen. Wenn also auf Grundlage des präventiven Verfassungsschutzrechts eine Partei oder Organisation verboten wird, sichert und vollstreckt das Strafrecht die staatliche Präventionsmaßnahme, §§ 84, 85 StGB. Auch im Bereich der Organisationsdelikte (§§ 129 ff. StGB), wie etwa Gründung einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung, kriminalisiert das Strafrecht einen auf unerlaubte Zwecke ausgerichteten Personenzusammenschluss weit im Vorfeld eines etwaig eintretenden schädigenden Ereignisses. Die auf Straftaten gerichtete innere Zweckrichtung der Gruppierung allein begründet die Strafbarkeit. Der Sache nach betreibt das Strafrecht im Falle der Organisationsdelikte Gefahrenabwehrrecht.
Über die Versuchsbestrafung
Über solche offensichtlichen Näheverhältnisse von repressiven und präventiven Regelungsrichtungen hinaus, gibt es weitere normative Anhaltspunkte für die sicherheitsrechtliche, auf Gefahrenabwehr gerichtete Komponente des Strafrechts. Dem Grunde nach beginnt die für das Gefahrenabwehrrecht typische Vorfeldanknüpfung schon bei der Versuchsbestrafung: so ist nicht etwa nur der vollendete Totschlag strafbar, sondern bereits der Versuch. Obgleich die Versuchshandlung nicht zu einer Rechtsgutsverletzung führt, ja im Falle des untauglichen Versuchs nicht einmal zu befürchten stand, ist der Versuchstäter nach dem Gesetz zu bestrafen. Versuchsbestrafung ist Bestrafung ohne Tatopfer, oder zumindest ohne Geschädigtem. Das Gesetz ordnet die Bestrafung des Versuchs an, weil bereits die expressiv gewordene Betätigung des rechtsfeindlichen Willens in Form des unmittelbaren Ansetzens einen strafwürdigen Akt bildet. In den Worten Claus Roxins ist der Versuch der tatbestandsnahe, rechtserschütternde Normbruch. Überdies enthält das Strafrecht eine Reihe von abstrakten Gefährdungsdelikten. Durch sie vermutet der Gesetzgeber unwiderleglich die sozialschädliche Begehung einer Handlung, ohne dass eine konkrete Gefährdung in Form einer „Beinahe-Rechtsgutsverletzung“ im Raum steht. Wer zum Beispiel zu einer Waffe oder einem gefährlichen Werkzeug bei einer Körperverletzung greift, wird härter bestraft als derjenige, der mit bloßen Fäusten angreift – auch wenn die mit einer Waffe hervorgerufenen Verletzungen geringfügiger sind.
Beispiel Trunkenheitsfahrt
Unter den abstrakten Gefährdungsdelikten dürfte auch unter den weniger zu Straftaten neigenden Naturen die Trunkenheitsfahrt bekannt sein. Allein das Führen eines Fahrzeugs im Zustand der Fahruntüchtigkeit wertet das Strafgesetzbuch als sozialschädlich und strafbarkeitsbegründend. Im Falle der Trunkenheitsfahrt sind über die Strafe hinaus weitere Rechtsfolgen vorgesehen, nämlich der Entzug der Fahrerlaubnis. Der Führerscheinentzug ist nicht Teil der Strafe, sondern schließt an diese eine präventive Maßnahme zum Schutze der Allgemeinheit und des Straßenverkehrs an.
Die Strafe hinter der Strafe
Bei schwereren Delikten wie etwa Mord, kann das Gericht Sicherheitsverwahrung anordnen. Auch diese ist nicht Strafe als Rechtsfolge für Normbruch, sondern auf künftig erwartete Normübertretungen einsetzende Gefahrenabwehr. Präventionsmaßnahmen zielen nicht auf die Tat, sondern den Täter. Durch das von ihm in der Vergangenheit an den Tag gelegte Verhalten gibt er der öffentlichen Gewalt zu erkennen, dass von ihm „nichts Gutes mehr zu erwarten ist.“ Die Tat mag durch die Strafe abgegolten sein, die Person des Täters lässt besorgen, dass die bloße ex-post-Sanktion nicht ausreicht. Die an die Strafe anknüpfende Sanktion bildet die Ordnungsmaßnahme hinter der Strafe. Praktisch stellt sie sich dem vom Entzug der Fahrerlaubnis oder der Sicherheitsverwahrung Betroffenen als Strafe hinter der Strafe dar. Im Unterschied zur Strafe, die der Täter als Zentralgestalt des Geschehens steuern kann, erfolgt die Prävention aus ex-ante-Sicht. Diese kann der Betroffene nicht beeinflussen, liegt diese doch auf Seiten der Behörden und Gerichte. Dass der Betroffene keinen Einfluss auf die Gefahrenprognose hat, wohingegen er sich für oder gegen eine nochmalige Begehung einer Straftat frei entscheiden kann, stellt im Kern eine Depersonalisierung (Jakobs) dar. Der Zusammenhang von Sicherheit, Ordnung und Strafe ließe sich an weiteren Beispielen zeigen. Beleuchtet wurde dieses Thema nicht nur von Gesellschaftstheoretikern wie Michel Fouceault etwa in Überwachen und Strafen, sondern auch hierzulande von der Strafrechtsdogmatik.
Der Feind im Strafrecht
So stellte Günther Jakobs in den 1980er Jahren sein Konzept des Feindstrafrechts vor, welches eine bis heute andauernde Diskussion auslöste. Jakobs´ These ist, dass das Feindstrafrecht bereits im Kern in der Strafrechtsordnung enthalten ist. Es handelt sich somit um (zunächst) deskriptive Überlegungen über die Regelungsrichtung des Strafrechts. Jakobs´ Theorem steht in engem Zusammenhang zu seiner Strafrechtskonzeption. Sie soll daher im Folgenden nachgezeichnet werden und als Grundlage der Gedankenführung dienen: demnach stellt das System der Strafnormen einen Stabilitätsmechanismus auf, der von gegenseitigen normativen Erwartungen geprägt und getragen wird. Im System der Strafnormen stabilisiert sich die Erwartung, dass niemand die Strafnormen verletzen wird. Die Verletzung einer Strafnorm erschüttert dieses Vertrauen. Dessen Wiederherstellung bedarf somit einer Rechtsfolge in Form einer Sanktion (Strafe), die die Geltung der Norm bestätigt und wiederherstellt. In deutlicher Anlehnung an Hegels Straftheorie – Strafe als Negation der Negation – wie auch an Luhmanns Systemtheorie hebt bei Jakobs die Strafe die systemische Vertrauenserschütterung infolge der Straftat wieder auf, und überführt sie in den Zustand allgemeiner Stabilität. Im Grundsatz ist somit das Strafrecht nach Jakobs an eine reziproke Erwartung der Normbefolgung geknüpft. Dieses gegenseitige Anerkenntnis bildet die Grundlage der personalen Rechtssubjektivität. Im gegenseitigen Vertrauen auf Normbefolgung materialisiert sich die Gleichordnung der Rechtsgenossen. Du sollst nicht töten – und berechenbar halten sich die meisten daran. Übertritt jemand diesen Normbefehl, stellt die Strafe die gegenseitigen Erwartungen wieder her.
Konturen des Feindes
Anders hingegen verhält sich das Strafrecht zum Feind der Rechtsordnung. Zwar ist der Feind der Rechtsordnung unterworfen, doch beschränkt sich seine Delinquenz nicht auf eine punktuelle oder einmalige Normübertretung, sondern negiert diese als Ganze. Dementsprechend gestaltet das Strafrecht die Rechtsfolge: nicht mehr die persönliche Vorwerfbarkeit der Tat (Schuld) bildet den Maßstab der Strafzumessung, sondern die prognostizierte Gefährlichkeit des Täters, dem die Rechtsordnung seine Personalität und Rechtssubjektivität entzieht. Feindstrafrecht beginnt nach Jakobs dort, wo die normative Erwartung zusammengebrochen ist und durch eine kognitive ersetzt wird. Die Rechtsordnung erwartet vom Feind keine Normbefolgung (mehr), sondern ersetzt diese kognitiv durch eine Gefahrenprognose. Der Feind ist derjenige, von dem man nichts mehr zu erwarten, aber Schlimmeres zu befürchten hat. Als Gefährder wird er als Störungsobjekt begriffen, also depersonalisiert. Im Hinblick auf die eingangs erläuterten unterschiedlichen Regelungsrichtungen der Rechtsmaterien bedeutet dies:
Feindstrafrecht ist Sicherheitsrecht in Gestalt des Strafrechts
Feinde sind nach dieser Konzeption nicht nur gefährliche Terroristen oder Gewohnheitsverbrecher, sondern jeder Täter, der durch seine Tatmodalität zu erkennen gibt, dass er sich grundsätzlich den normativen Erwartungen der Rechtsordnung entzieht. Anhaltspunkte dafür finden sich nach dem Strafgesetzbuch auch bei weit weniger gefährlichen Handlungen. So werden im Bereich der Delikte mit sogenannter überschießender Innentendenz gerade auch die inneren Motive des Täters erschwerend berücksichtigt: beim Diebstahl die Zueignungsabsicht, bei der Urkundenfälschung die Verwendungsabsicht im Rechtsverkehr, beim Betrug die Bereicherungsabsicht. Das Motiv und die innere Zwecksetzung der Tat bilden neben der Schädigung der geschützten Rechtsgüter den Unrechtskern dieser Deliktsgruppe. Freilich handelt es sich bei Betrügern, Dieben und Urkundenfälschern noch nicht um Feinde im engeren Sinne. Sie sind durch den Strafrahmen nicht depersonalisiert, lediglich begegnet die Rechtsordnung den Motiven ihrer Normübertretung mit „größerem Argwohn“ und härteren Strafen. Dieser „Argwohn“ kann sich je nach politischer Lage zur endgültigen Feindbestimmung fortsetzen.
Feindstrafrecht als Ausnahmerecht
Feindstrafrecht zielt nicht auf den normalen Rechtsgenossen, sondern auf den „Dauergefährder“ der kraft seiner Existenz bedrohlich ist. Er ist nicht die Regel – ansonsten drohte die revolutionäre Beseitigung der gesamten Rechtsordnung – sondern die Ausnahme. Es zählt zu den weiterverbreiteten Missverständnissen, dass der Ausnahmezustand nur dann eintritt, wenn die Normen insgesamt nicht mehr gelten und eine Art condottiere eine neue souveräne Ordnung schafft. Dieses Bürgerkriegsszenario mag die auffälligste Ausprägung des Ausnahmezustandes sein, die theoretische Reichweite des Begriffs erschöpft sich darin jedoch nicht. Vielmehr ist der Ausnahmezustand auch gesetzlich normierbar. In den zahlreichen Anti-Terror-Gesetzen der USA nach 9/11 wie auch in der weltweit nahezu identischen Regelungstechnik des Coronamaßnahmenregimes fanden sich die Wesensmerkmale des Ausnahmezustandes wieder: dazu gehört die Normierung einer zeitlich und räumlich nicht eingrenzbaren Bedrohung (Terroristen und Viren sind hier funktional äquivalent), die Bestimmung eines meist unsichtbaren Feindes außerhalb der Ordnung, der wiederum mit außergewöhnlichen Mitteln bekämpft werden muss.
„checks and balances“
Diese außergewöhnliche Zweck-Mittel-Relation (Zweck: Beseitigung einer außerordentlichen Gefahr; Mittel: Ausnahmegesetze) durchbricht die rechtsstaatliche Normallage. Denn als rechtspolitischer Begriff bezeichnet Rechtsstaat nicht nur die formale Seite des rechtsförmigen Handelns, sondern materialisiert ein Verteilungsprinzip: nach diesem ist das Handeln des Einzelnen grundsätzlich unbegrenzt und frei, während das Handeln des Staates messbar und berechenbar sein muss. Setzt der Staat der Freiheit des Einzelnen eine Grenze, muss er dies als verhältnismäßig rechtfertigen. Staatsorganisationsrechtlich ist der Rechtsstaat von einer Gewaltenverschränkung in Form von checks and balances geprägt. Sowohl das Verteilungsprinzip wie die staatsorganisationsrechtliche Kompetenzordnung sind im Ausnahmegesetz durchbrochen. Anstelle des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes treten sicherheitspolitische Nützlichkeitserwägungen, anstelle der verfassungsrechtlichen Kompetenzordnung treten nicht vorgesehene technokratische Gremien, so etwa Krisenstäbe und Expertenkomissionen.
Das „Paradigma des Regierens“
Technisch haben solche Ausnahmegesetze meist ihren Ursprung nicht im Parlament, sondern in der Exekutive. Die parlamentarische Beratung und Gesetzgebung erweist sich hier nur noch als legislative Übersetzung exekutiver Maßnahmen. Am Beispiel des Coronaregimes lässt sich dies genau erläutern: der Inzidenzwertautomatismus kam der Ideen nach aus dem Maßnahmenbündel des Gesundheits-und Sicherheitsstaates. Bei der Neufassung des Infektionsschutzgesetzes wurde er in Gesetzesform gegossen, mit der Folge, dass den Behörden jeder Ermessenspielraum genommen wurde und die Unterscheidung von Gesetz und Gesetzesvollzug verschliff. Sekundiert wurde das erst jüngst zurückliegende Maßnahmenregime von den Normen des Ordnungswidrigkeiten- und Strafrechts. Dem bereits erwähnten an sich unpolitisch anmutenden Straftatbestand der Urkundenfälschung kam entscheidende Bedeutung zu, als es um die Durchsetzung von Gesundheitsnachweisen und Impfzertifikaten als Schlüssel der gesundheitspolitischen Neuordnung des öffentlichen Raumes ging. Dies wiederum zeigt, dass auch latent verkapptes Feindstrafrecht wie die Urkundenfälschung im Moment des politischen Ausnahmezustands zu rechtspolitischer Wirksamkeit gelangt. Feindstrafrecht und Ausnahmezustand bilden seit dem Ende des Ersten Weltkrieges das gerade liberaldemokratische Verfassungsstaaten prägende Paradigma des Regierens (Agamben).
Politische Steuerung durch Feindstrafrecht
Feindstrafrecht dient nicht nur dem Sicherheitsrecht, sondern steuert es umgekehrt auch. So können Versammlungen dann verboten werden, wenn in ihrem Rahmen die Begehung von Straftaten droht. Schafft der Gesetzgeber Delikte mit Tatmerkmalen, die eine bestimmte politische Meinung ins Visier nehmen, so etwa der § 130 IV StGB (Volksverhetzung), der ausschließlich die Billigung und Verherrlichung des Nationalsozialismus pönalisiert und damit eigentlich unzulässiges Sonderrecht ist, bildet dies auf Ebene des Sicherheitsrechts wiederum die Grundlage für Grundrechtseinschränkungen. Das Strafrecht flankiert und exekutiert wiederum gefahrenabwehrrechtliche Maßnahmen wie das eingangs erwähnte Partei-oder Vereinsverbot. Am Beispiel des Vereinsverbotes in Verbindung mit dem Strafrecht zeigt sich zudem eine für die Erosion rechtsstaatlicher Ordnungen hin zum Ausnahmezustand typische Erscheinung: nämlich die Ununterscheidbarkeit von Gesetz und Gesetzesvollzug. Vorgegeben ist diese bereits in der klassischen Gewaltenteilungslehre, also der Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative. Ein Vereinsverbot ist eine ministeriale Maßnahme auf Grundlage eines Gesetzes. Betätigt sich ein verbotener Verein wieder, so wird aus der Missachtung der Maßnahme – also des Gesetzesvollzugs – ein Tatmerkmal im Sinne des Strafrechts. Das Verhältnis von Feindstrafrecht und Sicherheitsrecht ist somit nicht nur missbrauchsanfällig, sondern lädt zum politischen Gebrauch geradezu ein. Die Normalität rechtsstaatlicher Unterscheidungen und Verteilungsprinzipien erfährt hier ihre strukturelle Durchbrechung. Im nucleus von Sicherheitsrecht und Strafrecht verschweißen Recht und Macht.
Beitragsbild / Symbolbild und Bildmitte: Cameris; Bild oben: DesignRage; Bild darunter: Julija Sulkovska; Bild unten: reisezielinfo / alle Shutterstock.com
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