Von Roderich A.H. Blümel

Angesichts der sich nahezu täglich steigernden Repression und der Differenz zwischen der laschen Behandlung tatsächlicher Schwerkrimineller und der harten Verfolgung kritischer Kommentare im Internet stellen sich viele Menschen einmal mehr die Frage nach der Gerechtigkeit im Staat. Eine Frage, die schon Platon beschäftigte, der in seiner Wirkung für die europäische Geistesgeschichte kaum überschätzt werden kann. Dass sich der Antagonismus zwischen Land und Meer (Carl Schmitt) auch in der jeweils größeren Prägung Kontinentaleuropas durch Platon und der angelsächsischen Welt durch Aristoteles widerspiegelt und es nach 1945 zu einer aristotelischen Überschichtung des platonisch geprägten kontinentaleuropäischen Denkens kam, macht den Blick auf den antiken Philosophen nur noch interessanter. So wie das Grundgesetz für sich den Rechtsstaat als eine seiner Grundlagen beansprucht, so ist ein zentraler Begriff Platons die Gerechtigkeit. Dass beides nicht deckungsgleich ist, zeigt schon das berühmte Bonmont der Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley, „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat.“ Welche unterschiedlichen Konzepte und Schwerpunkte Platon und das Grundgesetz hinsichtlich der Gerechtigkeit haben, soll hier in einem zweiteiligen Beitrag dargestellt werden.

Das Grundgesetz als Reaktion auf eine Krise
Ähnlich wie Platons Politeia verdankt auch das Grundgesetz seine Existenz einer Krise und der Bewertung des vorher herrschenden Systems, konkret der Herrschaft der Nationalsozialisten, als ungerecht und die Weimarer Reichsverfassung und deren Ermöglichung der nationalsozialistischen Herrschaft als ungenügend. Das Grundgesetz sollte die konstitutionelle Verkörperung der viel beschworenen „Lehren aus dem Nationalsozialismus“ sein, wobei es eigentlich eine Reaktion auf die offensichtlichen Schwächen der Weimarer Reichsverfassung war. Hinzukam natürlich  die allgemeine philosophische, moralische und rechtswissenschaftliche Entwicklung nach Platon und ihre zunehmende staatsrechtliche Ausrichtung auf den liberalen Rechtsstaat. Nicht zuletzt konnten die „Väter und Mütter des Grundgesetzes“ auch nicht frei ihren Überzeugungen folgen, wie Platon es konnte, sondern hatten eine möglichst schnell zu behebende Ausgangslage und mit alliierten Einmischungen zu leben. Das Grundgesetz ist damit vor allem auch Produkt einer spezifischen historischen Lage und kein abstraktes philosophisches Werk wie die Politeia. Dennoch hätte das Grundgesetz auch anders ausfallen können.

Institutionen und Regulierungen
Die zentrale Frage der platonischen Staatsethik ist, wie in Teil 1 dargelegt, die nach der Gerechtigkeit, verstanden nicht als objektiver Zustand, sondern als persönliche Tugend. Das Grundgesetz zielt dagegen weder auf Tugenden noch überhaupt auf die die Institutionen ausfüllenden Personen ab, sondern will Gerechtigkeit maßgeblich über die gegenseitige Kontrolle der Institutionen und der machtpolitischen Beschränkung verwirklichen. Im Zentrum der Frage der Gerechtigkeit, die als solche nicht explizit gestellt wird, steht dabei natürlich der Rechtsstaat, jene bürgerliche Fiktion des 19. Jahrhunderts, deren Geschichte der Jurist Dr. Dr. Thor von Waldstein erst kürzlich nieder geschrieben hat (siehe die Rezension beim Freiburger Standard). Neben dem Rechtsstaat wird als gewisse Form von sozialer Gerechtigkeit noch das Sozialstaatsprinzip hochgehalten. Dabei kommt der Rechtsstaat als solcher nicht einmal explizit im Grundgesetz vor, sondern nur indirekt durch eine Umschreibung in Art. 20 III GG:

Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.“

Durch eben diese Bindung und damit rein formelle Regelung ist die Frage der Gerechtigkeit für das Grundgesetz abschließend beantwortet. Dies zeigt den größten Unterschied zwischen materieller Gerechtigkeit und formellem Rechtsstaat: Während ersteres die inhaltliche Antwort auf die Frage „was ist gerecht?“ ist, stellt der Rechtsstaat eine solche inhaltliche Frage nicht, sondern achtet nur darauf, ob die herrschenden Gesetze und damit vor allem die jeweiligen Prozessordnungsvorschriften eingehalten wurden. Ist dies der Fall, ist das Ergebnis rechtmäßig. Platon wiederum macht hierzu keine Aussagen, insbesondere sicherlich auch, weil sein gerechter Staat eine Justiz und damit auch Prozessordnungsvorschriften überflüssig machen sollte.

Als Verfassung regelt das Grundgesetz Gesetzeskompetenzen, gibt gewisse Ministerien vor und regelt das Verfahren der Herrschaftsapparats. Wer aber diesen Apparat besetzt, vom Bundeskanzler bis zum Rechtspfleger, hält es völlig offen. Bezeichnenderweise ist die einzige potentielle Beschränkung dessen in der Möglichkeit des Grundrechtsentzugs und des passiven Wahlrechts zu sehen, dass das Grundgesetz also eine solche Person nicht zur Herrschaft für zulässig erachtet, die die Wesensinhalte des Grundgesetz beseitigen will. Dass der parlamentarischen Demokratie, die durch das Grundgesetz festgeschrieben wird, eine solch positive Auswahl der Herrschenden immanent ist, dass es keine konstitutionelle Festsetzung braucht, dürfte wohl selbst der größte Optimist nicht glauben. Dabei hätte es verschiedene Regulierungen auch hinsichtlich der Personen einbauen können. So etwa, um nur ein Beispiel zu geben, dass niemand ins Parlament gewählt werden kann, der vorbestraft ist oder zumindest wer wegen verschiedener Delikte – etwa Betrug – in Erscheinung getreten ist.

Homogenität gegen Pluralismus
Während Platons Staat wohl in seinem Ideal die Staatsvorstellung mit dem höchsten Grad an (gedachter) Homogenität ist, ist das Grundgesetz im Gegenzug wohl die pluralistischste Verfassung. Sein kausaler Nexus ist nicht nur nicht der ethische Wert der Gerechtigkeit ist, sondern die größtmögliche Absicherung der pluralen Zersplitterung der Gesellschaft. Während Platon den Wert der Gerechtigkeit im Staat verankert, eröffnet das Grundgesetz einen Rechtsrahmen, in denen Individuen verschiedene, auch einander widersprechende Werte und Lebensvorstellungen verfolgen können. Eine solche Pluralität ermöglicht jedoch allein schon deshalb keine (absolute) Gerechtigkeit, als dass bei einer pluralen Gesellschaft sehr verschiedene und diametral entgegengesetzte Verständnisse von Gerechtigkeit bestehen können. Eine bezeichnende Parallele findet man jedoch, dass sowohl Platon als auch das Grundgesetz eine Einhegung der Armee vorgesehen haben. Bei Platon ist es die Erziehung der Wächter zu Sanftmut, im Grundgesetz der Verbot des Einsatzes der Bundeswehr im Inneren sowie die Konzeption des Soldaten als Bürger in Uniform. Eine Einhegung der Parteien etwa kennt das Grundgesetz nicht, eine solche wird nur dort vorgenommen, wo es eine hierarchische Struktur und tatsächliche potentielle Macht gibt.

Institution contra Person
Sowohl Platons Staatsidee wie auch das Grundgesetz als tatsächliche Verfassungsordnung waren damit Reaktionen auf das Scheitern beziehungsweise als ungerecht angesehene vorherige Systeme. Beiden sollen die vorherigen Schwächen kompensieren und dem abstrakten Ziel der Gerechtigkeit dienen, bei Platon durch die Herausbildung gerechter Herrscher, beim Grundgesetz durch die entsprechende Bindung und Konzeption der staatlichen Institutionen in Form des bürgerlichen Rechtsstaats. Diese unterschiedliche Gewichtung der Einzelperson beziehungsweise des abstrakten Herrschaftsapparats lässt sich jedoch auch bereits mit dem Unterschied der Verwaltung einer Polis und einem Flächenstaat mit einer zweistelligen Millionenzahl an Einwohnern begründen, der notwendigerweise einen ganz anderen Staatsaufbau und eine andere Verwaltung benötigt. In einem Vergleich zeigt sich, dass beide zum jeweils entgegengesetzen Extrem tendieren. Während Platon die Institutionen völlig ausblendet und rein auf die Erziehung der Menschen setzt, blendet das Grundgesetz den Faktor Mensch ganz aus – und kann ihn aufgrund seines auf Individualismus und Pluralismus ausgerichteten Wertekodex auch gar keine Tugenden oder Werte abseits eben jener beiden vorgeben – und setzt rein auf eine Regulierung der Institutionen. Ob dadurch allein Gerechtigkeit sichergestellt wird, wird von immer mehr Menschen bezweifelt. Platon bleibt damit aktuell – allein sicherlich schon durch die von ihm erstmals staatstheoretisch aufgeworfene und wohl niemals abschließend beantwortete Frage der Gerechtigkeit.

Teil 1 des Beitrages findet sich hier!

Beitragsbild / Symbolbild: Anastasios71; Bild oben: Christin-Klose; Bild darunter: Brian-A-Jackson / alle Shutterstock.com

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