Von Roderich A.H. Blümel.

Beim Lindenbaum-Verlag erschien kürzlich „Das alte germanische Recht“ des Autoren Linus Ammer. Mit der Neuerscheinung wird, so viel bereits vorweg, ein wertvoller Beitrag zur Rechtsgeschichte geleistet. Denn zum germanischen Recht gibt es nur wenige eigene Publikationen, die zudem meist Jahrzehnte alt sind. Oft findet das germanische Recht zudem nur eine stiefmütterliche Behandlung im Rahmen einer Gesamtdarstellung oder in Verbindung mit weiteren Forschungsgebieten. Selbst in universitären Vorlesungen und Unterlagen zur Rechtsgeschichte wird es regelmäßig nicht behandelt, der Student erfährt zwar manches über die „manus“ im römischen Recht oder die Sacheigenschaft von Sklaven in der Antike, jedoch nichts über das germanische Recht. Schon allein daher ist eine solche Publikation zu begrüßen.

Germanische Einflüsse unbestreitbar
Die Bedeutung des römischen Rechts für die Entwicklung des deutschen Rechts ist zwar unbestritten, jedoch spielten germanische Einflüsse insbesondere im Mittelalter ebenfalls eine große Rolle und im 19. und 20. Jahrhundert kam es sogar zu verschiedenen Forderungen, sich wieder am germanischen Recht zu orientieren. Solchen Ideen wird, ohne sie explizit aufzugreifen, eine deutliche Absage erteilt beziehungsweise die Grundlage entzogen:

„Die Frage, ob der Gegenwartsmensch so leben kann, soll, muss wie der archaische Germane, ob es Vorbildcharakter, Anregung oder Ziel heutiger Lebensformen sein kann, dem urgermanischen Recht nahezukommen, ist gegenstandslos. Wenn wir wollten, wären wir nicht dazu imstande, denn wir entspringen völlig anderen Umgebungsmaßstäben. Wir sind pazifiziert, sie waren von allgegenwärtigem Krieg umgeben, wir sind industriell, sie waren Subsistenzbauern, wir haben bürokratische Zentralstaaten, sie wilde Vorstaatlichkeit, wir leben in völliger Vernetzung, sie in gewaltigen Urwäldern. Es trennen uns derartige Lichtjahre von den Grundlagen der germanischen Lebenswelt des ersten vorchristlichen Jahrtausends, dass jeder Vergleich sinnlos und beinahe schon jeder Wertungsversuch lächerlich ist.“

Unterschiede mannigfaltig
Damit ist bereits ein wichtiger Faktor angesprochen, denn das germanische Recht hat nicht einfach nur eine andere Regelung für einen Kaufvertrag, sondern basiert auf einer völligen anderen Kultur und Ehrenvorstellung. Ohne die Bedeutung des freien Mannes oder des Eides zu kennen, ist es als Rechtsordnung kaum verständlich. Dieser Aspekt wird deutlich herausgearbeitet und verständlich vermittelt. Dennoch ist die Lektüre nicht nur für das historische Interesse zu empfehlen, sondern gerade auch um einen ganzheitlichen Blick auf die germanische Lebenswelt und die Stammesorganisation zu gewinnen. Vom Sippenaufbau über die Königswahl und die Rolle der Priester sind zahlreiche Aspekte behandelt. Die Unterschiede des römischen und germanischen Rechts spiegeln dabei nicht nur unterschiedliche Wertegefüge und Kulturen wider, sondern auch das einer anderen Gesellschaftslage. War das eine für die Organisation, Verwaltung und das Wirtschaftsleben eines großflächigen Imperiums, so war das andere ein Stammesrecht, das auf der Grundlage freier, wehrhafter Männer begründet ist. Dass sich vieles davon trotz aller gesellschaftlichen Veränderungen bis ins Mittelalter und teils sogar bis heute erhalten, wird der Leser immer wieder erstaunt feststellen können.

Nebenbei Fakten präsentiert
Aufgebaut ist das Buch wie ein Wörterbuch, behandelt werden nicht Paragraphen, sondern verschiedene, für das germanische Recht entscheidende Begriffe. Von Thing über Zeugen zu Sippenpflichten und Hinrichtungsformen werden so ziemliche alle relevanten Aspekte des rechtlichen und gesellschaftlichen Lebens behandelt. Der Aufbau nach Begriffen ist dabei, wie der Leser merken wird, sachgerecht, denn das germanische Recht geht nicht nach kodifizierten Artikeln aus, sondern basiert auf ganz anderen Grundlagen. Es werden sowohl diese Grundlagen als auch die verschiedenen Rechtstellungen und Rechtsfähigkeiten der verschiedenen Gesellschaftsschichten behandelt. Aber ganz konkret werden auch mögliche Strafen und straferschwerende beziehungsweise strafmildernde Umstände sowie sogar prozessuale Regelungen wie den, dass das germanische Recht nur die Zeugenaussage und den Eid als Beweismittel kannte, aufgezeigt. Auch Unterschiede zwischen den verschiedenen Stammesrechten werden dargelegt. Quasi nebenbei erfährt der Leser noch zahlreiche Fakten über das germanische Leben und ist so in die Lage versetzt, die gesellschaftliche Grundlage für das Rechtssystem besser zu verstehen. Bei all dem bleibt das Buch trotzdem kurzweilig zu lesen, weder bedarf es juristischer Vorkenntnisse noch solcher über das Altertum an sich.

Fundierter Überblick
Am Ende gewinnt der Leser nicht nur einen fundierten Überblick über das germanische Recht, insbesondere der juristische Leser bekommt veranschaulicht, dass es auch andere Möglichkeiten der Rechtsordnung gab als die Regelung nahezu jeden Lebenssachverhalt durch Paragraphen und Artikel. Selbst für den Leser ohne ausgeprägterem juristischen Interesse ist das Buch zu empfehlen, um mehr über die Kultur und das Leben der Germanen zu erfahren. Endnoten und eine Sammlung der überlieferten germanischen Gesetzestexte runden das Werk ab und ergänzen den wissenschaftlichen Wert des Werkes. Auf seinem Gebiet hat es die Qualität dazu, ein neues Standardwerk zu werden und eine möglichst große Verbreitung ist wünschenswert. Interessierte an dem germanischen Recht sind nun jedenfalls in der Lage, sich einen fundierten und umfassenden Überblick zu verschaffen.

Erhältlich ist das Buch beim Lindenbaum-Verlag für 19,80 Euro, die ISB-Nummer lautet: 978-3-949780-23-3

Beitragsbild / Symbolbild: Shutterstock AI Generator / Shutterstock.com; Bild oben:Buchcover (Lindenbaum-Verlag)

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