Von Roderich A.H. Blümel
Das Bundesverfassungsgericht genießt in der Bevölkerung und auch unter Oppositionellen einen guten Ruf. Karlsruhe stellt, so scheint es für viele, ein letztes juristisches Bollwerk gegen das Handeln der Altparteien dar. Mit einigen wenigen, teils schon weit weg liegenden Entscheidungen haben sich die Richter in Rot dieses Vertrauen erarbeitet und kaum eine staatliche Maßnahme – ob Vereinsverbot, Grenzöffnung oder unliebsames Gesetz – erfolgt, ohne, dass Oppositionelle unverzüglich auf Karlsruhe verweisen. Grund genug, einen kritischen Blick auf das BVerfG zu werfen.
Produkt westlicher Prägung
Das Bundesverfassungsgericht ist in der modernen deutschen Verfassungslehre ein Novum. Verweise auf das Reichskammergericht und den Reichshofrat des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation gehen insoweit fehl, als dass diese keine Verfassungsgerichte nach heutigem Verständnis darstellen, sondern eine Mischung aus kaiserlicher Verwaltungsbehörde und oberstem Gerichtshof. Der Deutsche Bund hatte schon gar keinen Bedarf für ein Verfassungsgericht, das Kaiserreich kam ohne aus und auch die Weimarer Republik beließ es bei einem Staatsgerichtshof, dessen verfassungsrechtliche Zuständigkeit sich auf Streitigkeiten zwischen dem Reich und den Ländern beschränkte. Einzig in der Paulskirchenverfassung lassen sich Ansätze einer Verfassungsgerichtsbarkeit erkennen. Was uns heute als Anomalie erscheint, ist auf eine anders geartete deutsche Verfassungsentwicklung zurückzuführen. „Der Hüter der Verfassung“, um einen Terminus Carl Schmitts zu verwenden, war in der deutschen (und nicht nur deutschen) Geschichte lange Zeit schlicht kein Gericht, sondern Kaiser und Reichspräsident. Erst in der Bundesrepublik wurde ein Verfassungsgericht nach westlichem Vorbild geschaffen, wobei hier insbesondere der US Supreme Court Pate stand. Wie in allem, so ging die Bundesrepublik jedoch auch hier über die als Vorbild herangezogenen Institutionen des Westens hinaus.
Supreme Court stand Pate
Während die Schaffung des Bundesverfassungsgerichts 1949 aufgrund der faktischen Lage ohne öffentliche Diskussion erfolgte, gab es eine solche in der juristischen Öffentlichkeit der Weimarer Republik. Die Mehrheit der Juristen lehnte ein solches Verfassungsgericht damals ab, insbesondere Carl Schmitt tat sich hier mit seinem bereits erwähnten Aufsatz „Der Hüter der Verfassung“ hervor. Seine wesentlichen Gründe waren, dass Richter nur zur Überprüfung der richtigen Anwendung des Rechts, nicht aber zur Entscheidung über das Recht und die Schaffung von Recht kompetent seien. Richter subsumieren normalerweise einen Sachverhalt unter eine bestehende Norm, bei einem Verfassungsgericht mit Verwerfungskompetenz würden sie jedoch notwendigerweise eine Norm unter eine Norm subsumieren müssen. Was für den Laien als nichts Besonderes klingt, ist für den Juristen etwas gänzlich anderes. Denn, wie Schmitt ausführt:
„Die Anwendung einer Norm auf eine andere Norm ist etwas qualitativ anderes als die Anwendung einer Norm auf einen Sachverhalt, und die Subsumtion eines Gesetzes unter ein anderes Gesetz (wenn sie überhaupt denkbar ist) etwas wesentlich anderes als Subsumtion eines geregelten Sachverhaltes unter seine Regelung. Soll ein Widerspruch zwischen dem einfachen Gesetz und Verfassungsgesetz festgestellt und das einfache Gesetz für ungültig erklärt werden, so kann man das nicht im gleichen Sinn Anwendung des Verfassungsgesetzes auf das einfache Gesetz nennen, wie es die justizmäßige Anwendung des Gesetzes auf den Einzelfall ist. Im ersten Fall werden Normen miteinander verglichen, und bei Kollisionen und Widersprüchen, die aus sehr verschiedenen Gründen möglich sind, hebt die eine Norm die andere auf. Im zweiten Fall, bei justizmäßiger Anwendung des Gesetzes auf einen bestimmten Sachverhalt, wird ein einzelner Fall unter die generellen Begriffe (und den gesetzlichen „Tatbestand“) subsumiert.“ (Carl Schmitt, der Hüter der Verfassung, S. 42)
Zwangsläufig würde ein solches Gericht daher politischer Natur sein und in einer pluralen Gesellschaft pluralistischen Verteilungskämpfen unterliegen.
Der Hüter der Verfassung
Seitdem es politische Organisationsformen des menschlichen Zusammenlebens gibt, gibt es Grundlagen – mit anderen Worten: Verfassungen – eben dieses Zusammenlebens. Wo es solche Grundlagen gibt, bedarf es einer Instanz, die die Einhaltung dieser Grundlagen sicherstellt und überwacht. Dementsprechend finden wir sie bereits im Beginn der europäischen Staatsgeschichte, bereits die spartanischen Ephoren nahmen dem König den Eid ab, vertraten Anklagen bei schweren Vergehen und staatlichen Prozessen, beriefen die Volksversammlung ein und verurteilten sogar spartanische Könige zum Tod. Während ihrer einjährigen Amtszeit genossen sie Immunität, eine nachträgliche Klage wegen Amtsmissbrauch war jedoch möglich, eine Wiederwahl hingegen ausgeschlossen. Sie waren weniger Gericht nach der heutigen Vorstellung und mehr Aufsichtsbeamte, dennoch nahmen sie verfassungswahrende Aufgaben wahr. Das Problem jeder solchen Institution drückte dabei schon Aristoteles aus, der das Ephorat wegen dessen Missbrauchsgefahr kritisierte. Carl Schmitt erweiterte diese Kritik zu der Gefahr, dass sich der Hüter der Verfassung selbst zum Herrn der Verfassung macht. Von Sparta ausgehend findet sich die Institution eines Verfassungshüters in den unterschiedlichsten Formen in der europäischen Geschichte, von den Tribunen, Zensoren und Syndic sowie dem römischen Senat bis hin zum Sénat Conservateur der französischen Verfassung des Konsulats von 1799 wurden verschiedene Formen von Institutionen und Regelungen zur Wahrung der Verfassung angewandt. Dass man lange Zeit hindurch nicht oder nicht ausschließlich auf entsprechende Gerichtshöfe setzte, hatte auch den Hintergrund, „dass der gerichtliche Schutz der Verfassung eben nur einen Teil der Einrichtungen zum Schutz und zur Garantie der Verfassung ausmachen kann und daß es eine summarische Oberflächlichkeit wäre, über diesem gerichtlichen Schutz die sehr engen Grenzen jeder Gerichtlichkeit und die vielen anderen Arten und Methoden einer Verfassungsgarantie zu vergessen.“ (Carl Schmitt, der Hüter der Verfassung, S. 11) Die längste Zeit der europäischen Geschichte kam daher nicht einem Gericht, sondern exekutiv-administrativen Stellen die Verfassungswahrung zu. Damit gingen auch andere Möglichkeiten und Handlungsoptionen einher, als die, die ein Gericht üblicherweise hat.
Der Rechtsstaat
Mit dem Aufkommen des Rechtsstaats in Europa und dessen immer weiteren Ausbau und Stärkung war es jedoch naheliegend, dass man zunehmend den Schutz der Verfassung durch Gerichte gewährleisten wollte. Es ist mittlerweile eine solche Selbstverständlichkeit, dass für viele Menschen eine andere Institution als die eines Gerichts als Verwirklichung des rechtsstaatlichen Ideals kaum denkbar ist. Dies beinhaltet jedoch mehrere Probleme, eine ist, dass die Verfassung und das Verfassungsrecht nicht mehr der politischen Entscheidung unterliegen, sondern sich nur noch in einem vom Verfassungsgericht abgesteckten Rahmen bewegen können. Das gilt insbesondere für eine Verfassung wie das Grundgesetz mit ihren starken Beschränkungen und seinem Ewigkeitsanspruch. Damit wird die Entpolitisierung der Verfassung und des Verfassungsrechts vorangetrieben.
Gesetzgeber könnte Gefahr sein
Ging die Gefahr eines Verfassungsbruchs in großen Teilen der europäischen Geschichte – bis zum 19. Jahrhundert – maßgeblich von der Exekutive aus, so wird sie heute mehrheitlich im Gesetzgeber gesehen. Das BVerfG hat daher weitreichende Kompetenzen und kann auch Gesetze sowie Verfassungsänderungen als verfassungswidrig bewerten. Da der Gesetzgeber – das Parlament – jedoch der Hauptaustragungsort und Hauptverteilungskampf der Parteienkämpfe ist, ist es nur folgerichtig, dass damit auch der Hüter der Verfassung zum Verteilungsobjekt wird. Der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich hat noch versucht, sich diesem pluralistischen Kampf zu entziehen und beispielsweise die Sachbefugnis der politischen Parteien nur für Wahlrechtsstreitigkeiten und die Sachbefugnis der Fraktionen politischer Parteien unter strenger Beschränkung zugelassen. Das BVerfG hingegen gibt nicht nur den Parteien und den Fraktionen umfangreiche Rechte, sondern teils auch staatlichen (und bei den Fraktionen beispielsweise im Endeffekt politischen) Organen, die mit subjektiven Rechten ausgestattet werden und den Klageweg gegen andere staatliche Organe beschreiten können. Aus dem Staat als Einheit und der Verfassung als politischer Entscheidung wird somit ein pluralistischer Kampf aller gegen aller auf dem vom Verfassungsgericht abgesteckten Rahmen.
Verfassungsgericht unabhängig?
Selbst wenn man dies bejahen mag, so stellt sich dennoch die Frage der Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts. Spätestens seit den Epholten Spartas und der aristotelischen Kritik an diesen steht diese Frage immer wieder im Raum der Überlegungen zur Verfassungswahrung. Für die modernen Verfassungsdiskussionen ist dabei der Versuch kennzeichnend, staatliche Institutionen und auch Verfassungsgerichte aus dem parteipolitischen Wettkampf und den Verteilungskämpfen im Pluralismus herauszuhalten. Tatsächliche Unabhängigkeit bedarf jedoch nicht nur der richterlichen Unabhängigkeit als solcher, sondern auch der Unabhängigkeit von der Politik und nicht zuletzt die institutionelle Unabhängigkeit, so etwa die Möglichkeit, die Zahl und Zusammensetzung der Richter oder die Zahl der Senate durch einfaches Gesetz zu ändern. Die Geschichte des Supreme Court der USA ist eine Geschichte solcher (versuchten) Beeinflussungen.
Der Beutewert des Gerichtes
Diese Beeinflussungen ziehen sich aber auch durch 75 Jahre Bundesrepublik. Bekanntermaßen werden die Richter des Bundesverfassungsgerichts vom Bundestag – und damit von den Parteien – gewählt. Der ursprüngliche Beweggrund war eine beabsichtige höhere Legitimation der Richter, die, wie jedes Verfassungsorgan, über den Umweg der Abgeordneten eine direkte Legitimation vom Volk erhalten sollten. Faktisch hat das Volk aber nicht den geringsten Anteil an der Wahl der Bundesverfassungsrichter und bringt ihrer Wahl regelmäßig keiner Beachtung entgegen. Die Parteien wiederum haben wenig Gründe, darauf zu achten, welcher beim Volk ohnehin unbekannte Jurist den Willen dieses repräsentieren könnte. Dafür haben sie umso mehr Gründe, Richter zu wählen, die auf der eigenen politischen Linie liegen. Denn ein entsprechend besetztes Gericht stellt eine starke Hürde für die Regierung der gegnerischen Parteien dar, so wie ein politisch feindliches Gericht eine große Hürde für die eigene Politik darstellen kann. Entscheidend wird dies zumeist in den Fragen der „großen“ Politik: Euro-Rettung, Klimaschutz, Migration und weitere Themen. Dies betrifft keineswegs nur Deutschland, auch die Verfassungsgerichte anderer Länder sehen sich den Versuchen ausgesetzt, regierungskonforme Richter ein- und regierungsunbequeme Richter abzusetzen, wie man in den vergangenen Jahren u. a. in Polen und in den USA sehen konnte.
Die Auswahl ist schon rein faktisch beschränkt
Die Abgeordneten des deutschen Bundestags gelten allgemein nicht unbedingt als akademische Ausnahmetalente und glänzen in der Regel auch nicht mit einem besonderen Bildungsinteresse. Die wenigsten dürften daher die weitestgehend auf den akademischen Betrieb beschränkten Lehrbücher, Aufsätze und Meinungsbeiträge verfolgen, um selbst zu passenden Kandidaten zu kommen. Es dürfte zahlreiche versierte Richter und Professoren geben, von denen man in Berlin noch nie etwas gehört hat. Das wirkt sich naturgemäß auch auf die Wahl der Richter aus. Nach § 2 III BVerfG müssen drei der Richter eines Senats an einem der obersten Gerichtshöfe des Bundes tätig gewesen sein, das Bundesministerium der Justiz führt dazu eine Liste der als geeignet erscheinenden Bundesrichter. Die anderen fünf Richter brauchen diese Voraussetzung nicht zu erfüllen, die Majorität der Richter kann daher von außerhalb der Justiz kommen. Praktisch haben sich die Parteien wie alles, was in ihrem Einflussgebiet liegt, auch die Wahl der Richter aufgeteilt: Seit 1971 gilt eine Absprache zwischen Union und SPD, wonach von den acht Richtern der beiden Seiten jeweils drei auf Vorschlag der einen und drei auf Vorschlag der anderen Seite gewählt werden, wobei die jeweils Vorgeschlagenen explizit Parteimitglieder sein dürfen. Bei den restlichen beiden Plätze haben beide Parteien das Vorschlagsrecht, wobei die Vorgeschlagenen nicht Parteimitglied (aber natürlich parteinah) sein dürfen. Wie bei allem in der pluralistischen Demokratie, so ist auch das Vorschlagsrecht schnell Gegenstand von politischen Tauchgeschäften geworden. Bereits 1971 verlangte die FDP als Koalitionspartner der SPD einen Sitz im Gericht, zwölf Jahre später wurde von den Liberalen das gleiche von der Union gefordert. Auch 1995 handelte man einen Sitz aus. Schnell forderten die Grünen von der SPD das Gleiche für sich und gleichzeitig transparentere Wahlregelungen, sogar mit einer öffentlichen Befragung der Kandidaten im Bundestag, mittlerweile ist man wie bei allem Teil des Gefüges geworden und hat nach Erhalt dem eigenen Vorschlagsrecht keine Forderungen nach Transparenz mehr gestellt. Bis 2016 wurde das Vorschlagsrecht in Bundesrat und Bundestag abwechselnd durch die Unionsparteien und die SPD ausgeübt, ab 2016 bezog man die Grünen mit ein und ab 2018 liegt ein inoffizieller 3-3-1-1 Verteilungsschlüssel unter Einbeziehung der FDP vor. Die Wahlen im Ausschuss des Bundestags und im Bundesrat sind weitestgehend nur Formsache, in Wirklichkeit entscheidet unter Billigung der Parteiführungen eine informelle Kommission die Kandidaten.
Mechanismus bekannt
Dies alles ist natürlich nicht unbekannt und am wenigsten unter denen, die einen Sitz im Bundesverfassungsgericht erlangen wollen. Empirische Studien für einen Einfluss gibt es naturgemäß nicht, jedoch ist er naheliegend: Parteimitgliedschaften sind offensichtlich von Vorteil, politische Nähe zu den Parteien ebenso, allein schon, damit die eigene Existenz wahrgenommen wird. Eine Parteimitgliedschaft beziehungsweise politische Nähe lassen sich aber nur schlecht mit Urteilen vertragen, die gegen die Interessen der Parteien verstoßen. Unbequeme Richter wird sich keine Partei schon aus Eigeninteresse in das Verfassungsgericht setzen, ebenso keinen Professor, der tragende Säulen der Nachkriegspolitik – Europa, Migration, Westbindung etc. – politisch oder juristisch kritisiert. Wer daher bewusst das Ziel verfolgt, einmal die rote Robe zu tragen, wird sich fachlich wie politisch stromlinienförmig bewegen und die Nähe zur Politik suchen. Das Gleiche gilt für die vom Bundesjustizministerium geführte Liste der geeigneten Berufsrichter, auch hier dürften als kritisch wahrgenommene Richter eine eher geringe Chance haben.
Nähe zur Politik
Insbesondere Hochschullehrer sind seit Jahrzehnten stark innerhalb des BVerfG vertreten. Kenner des akademischen Betriebs wissen dabei, dass Personen, die politisch unbequeme Ansichten öffentlich vertreten, dort gar nicht erst hochkommen. Wenn insoweit ohnehin schon eine „Vorauslese“ durch die politisch links dominierten Universitäten stattfinden, ist es nicht verwunderlich, dass der zur Verfügung stehende Pool eine deutliche Linksseite hat. Nicht zuletzt sind auch immer wieder ehemalige Berufspolitiker in den Senaten präsent, so aktuell etwa Stephan Harbarth, Präsident des BVerfG und vorheriges Mitglied des Deutschen Bundestags und des Bundesvorstands der CDU. Zuvor waren christdemokratische Berufspolitiker u. a. mit Peter Huber als vorherigen Innenminister Thüringens von 2010 bis 2023 und mit Peter Müller als vorheriger Ministerpräsident des Saarlands von 2011 bis 2023 im BVerfG vertreten. Von den fünf der bis 2002 amtierenden ersten sieben Präsidenten sowie sechs der bis 1994 amtierenden ersten sieben Vizepräsidenten waren vor ihrer Wahl ins BVerfG Berufspolitiker. Angesichts der weit verbreiteten Versorgungsmentalität und des Postengeschachers innerhalb der Welt der Berufspolitiker darf man vermuten, dass nicht jede Wahl nur durch juristische Expertise begründet war. Dass (ehemalige) Berufspolitiker gegen die Interessen ihrer Parteien entscheiden ist schon allen aufgrund der jahrzehntelangen Sozialisierung innerhalb dieser eher zu bezweifeln.
Die Auswahl der Richter kann dabei große Bedeutung haben
Der auf den Vorschlag der FDP ins BVerfG gewählte Henschel gilt als Urheber des Kruzifix-Beschlusses vom 16. 5. 1995, wonach das Anbringen von Kruzifixen in staatlichen Pflichtschulen gegen die Glaubensfreiheit verstößt. Hätten die Unionsparteien einen ihnen nahestehenden Richter vorgeschlagen, statt den Posten dem Koalitionspartner abzutreten, wäre die Entscheidung gegebenenfalls anders ausgefallen. Der Klimabeschluss des BVerfG vom 2021 wäre sicherlich bei einer anderen Gerichtsbesetzung undenkbar gewesen, dass der Beschluss jedoch von der Berichterstatterin Gabriele Britz verfasst wurde, die auf Vorschlag der SPD in das BVerfG gewählt wurde und mit einem Grünenpolitiker verheiratet ist, ist passend.
Angst der Etablierten
Nicht umsonst stellt ein möglicher Einfluss der AfD auf das BVerfG und die Landesverfassungsgerichte einer der größten Angstfaktoren des Establishments dar. Mit großer Intensivität wird an einer „Resilienz“ des BVerfG gearbeitet und diese gefordert. Auf einmal soll nach vielen Plänen das Verfassungsgericht dem politischen Einfluss und der pluralistischen Aufteilung entzogen werden. Der Grund ist einfach: Innerhalb der liberalen Beutegemeinschaft von Grünen bis CDU war man sich über die grundsätzliche Entwicklung stets einig, durch das BVerfG drohte Ungemach, richterliche Schelten und die Kassierung einzelner Gesetze, jedoch kein grundsätzlicher Widerstand gegen die großen Leitlinien der Nachkriegspolitik. Es geht um die Größe der Stücke des Kuchens und ihre Verteilung, auch um die Geschwindigkeit, mit denen die politischen Leitlinien durchgezogen werden, über den Kuchen als solchen bestand und besteht jedoch stets Einigkeit. Erst mit einer grundlegenden Alternativen, die sich diesen Leitlinien entgegenstellt, droht durch einen Einfluss auf das Verfassungsgericht nicht nur der eigene Beuteanteil zu sinken, sondern tatsächlich grundlegender Widerstand.
Das BVerfG als politischer Faktor
Zwar kann auch das Bundesverfassungsgericht „nur“ Recht und Gesetz anwenden, jedoch kann es dies vor allem Interpretieren. Insbesondere Verfassungsrecht ist dabei besonders interpretationsnotwendig wie -fähig. Das BVerfG erweist dabei einige Kreativität und nimmt sich einen eher weiten Rahmen zu. Faktisch kann es auch niemand daran hindern, denn niemand ist für eine Überprüfung der Entscheidungen zuständig. In den ersten Jahrzehnten der Bonner Republik wurde das BVerfG daher gern als eine Institution bezeichnet, über der nur der blaue Himmel schwebe, was sich mittlerweile zumindest hinsichtlich der Möglichkeit der Anrufung von EGMR und EuGH etwas relativiert hat. Schon diese Interpretation des Verfassungsrechts ist bedeutend: Schützt die Menschenwürde des Art. 1 GG die herrschende Migrationspolitik und ihre Folgen, oder schützt sie beispielsweise das Recht der Deutschen, ihre Heimat, Kultur und ethnische Homogenität zu bewahren? Beides lässt sich in Art. 1 GG hineininterpretieren, welche Interpretation erfolgt, liegt an der Mehrheit der Richter. Ist Verfassungsfeind, wer das deutsche Volk erhalten will oder wer dieses abschaffen will? Beides kann von einem entsprechend besetzten Verfassungsgericht geurteilt werden.
Politisch – keine Frage
Das BVerfG beschränkt sich jedoch nicht nur auf seine unmittelbar verfassungsrechtliche Aufgabe, sondern ist von Beginn an selbst ein politischer Faktor. Dies vor allem dadurch, dass es unbestimmte Rechtsbegriffe auslegt und Begriffe und Normen interpretiert. So ist etwa die Frage, was eigentlich der Wesenskern der freiheitlich-demokratischen Grundordnung darstellt, nicht vom Gesetzgeber, sondern vom Bundesverfassungsgericht im Urteil über das Verbot der Sozialistischen Reichspartei 1952 definiert worden. Dadurch kann das Bundesverfassungsgericht unmittelbar politisch tätig werden, da seine Entscheidungen dem Gesetzgeber neue Rahmen setzen oder sich Paradigmen ändern. Wenn aber das BVerfG dem Gesetzgeber den verfassungsrechtlich „richtigen“ Weg aufweist oder in Urteilen Gesetzesvorschläge impliziert (so etwa beim Urteil im zweiten NPD-Verbotsprozess) wird es zum Ersatzgesetzgeber und politischem Akteur. Als solcher wird es gelegentlich auch durch die Politik missbraucht, so etwa 1990, als die FDP Regierungspartei im Bund war und gleichzeitig als Fraktion Organklage gegen die Bundesregierung erhob, weil diese nicht berechtigt gewesen sei, deutsche Soldaten im Ausland einzusetzen.
Es wird nicht entschieden
Insbesondere oppositionelle Anwälte können zudem von einer weiteren Maßnahme des BVerfG ein Lied singen: Unbequeme Fälle einfach nicht zur Entscheidung annehmen. Eine Begründung dafür muss es praktischerweise nicht einmal geben. Rund 80 Prozent der eingereichten Verfassungsbeschwerden enden mit einer Nichtannahme ohne Begründung, rund fünf Prozent weitere Nichtannahmen enthalten wenigstens eine Begründung und nochmal 10 Prozent einen kurzen Hinweis auf die Gründe der Nichtzulässigkeit. Seit 1993 muss das BVerfG nicht einmal mehr den maßgeblichen rechtlichen Gesichtspunkt nennen, auch interne Richtlinien oder Entscheidungsvorgaben gibt es nicht.
Die Verfassung als Bestandteil der Hegemonie
Für einen Teil der deutschen Bevölkerung hat das Grundgesetz zudem noch einen quasi religiösen Status. Nicht wenige linksliberale Zeitgenossen argumentieren mit „unserer Verfassung“ ähnlich wie streng religiöse Christen mit der Bibel. Die legitimatorischen Defizite der Entstehung des Grundgesetzes sind längst vergessen, die Einflüsse der westlichen Siegerstaaten und ihre Absichten bei der Konstruktion des Grundgesetzes meist unbekannt. Dennoch hat das Grundgesetz einen wahren Siegeszug hingelegt. War es selbst im Dezember 1949 noch 39 Prozent der Befragten innerhalb der Amerikanischen Besatzungszone völlig unbekannt, ist die Berufung auf das Grundgesetz heute allgegenwärtig. In einer 2009 veröffentlichten Umfrage waren 74 Prozent der Deutschen „sehr stolz“ oder „ziemlich stolz“ auf das Grundgesetz und auch das BVerfG genießt ein hohes Vertrauen der Bevölkerung. Wenn man weder Stolz auf seine Geschichte, seine Kultur noch sein Vaterland sein kann, so bleibt zumindest der – erlaubte – Stolz auf die eigene liberale Verfassung. Wobei das Grundgesetz selbst den meisten Vertretern dieses spezifischen Verfassungsliberalismus unbekannt ist, sondern sie viel mehr die eigene Ideologie in dieses hineinprojizieren. Regelmäßig wird mit „unserer Demokratie“, „Demokratie“ an sich und „unserer Verfassung“ nicht die tatsächliche Staatsorganisation durch das Grundgesetz, sondern die eigene liberale Ideologie gemeint. Mittlerweile dürfte der sonst eher wenig praxisrelevante entfaltende Art. 1 GG, wonach die Würde des Menschen unantastbar ist, zum meist berufenen Artikel des Grundgesetzes geworden sein – schließlich wird die Bekämpfung der AfD und die Beobachtung dieser durch die Sicherheitsbehörden maßgeblich wegen einer angeblichen Wendung gegen die Menschenwürde begründet.
Vom Hüter der Verfassung zum Wahrer der Hegemonie
Denn nicht wenige verstehen unter „Demokratie“ nicht ein konkretes staatsorganisatorisches Modell, sondern die eigene liberale Ideologie. Liberalismus und Freiheitlich-demokratische-Grundordnung sind in dieser Denkweise deckungsgleich, entsprechend werden auch die Institutionen des Staates zum Schutz der eigenen Ideologie bemüht. In den Debatten um ein AfD-Verbot wird dies besonders deutlich: Niemand kann ernsthaft behaupten, dass die AfD eine Gefahr für die tatsächlichen Wesenskerne der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, also etwa das Rechtsstaatsprinzip oder parlamentarische Wahlen, darstellt. Viel mehr stellt sie einzig eine Gefahr für die politischen Vorstellungen der Altparteien und des Establishments dar. Wenn daher die linksliberale, Steuergeld finanzierte Zivilgesellschaft eine Kampagne für ein Verbot der AfD mobilisiert, dann zur Wahrung ihrer gesellschaftlichen Hegemonie, die durch staatliche Exekutivmittel gewahrt werden soll. Diese staatlichen Stellen sind zum großen Teil längst ein ideologischer Staatsapparat, am prominentesten Beispiel des Verfassungsschutzes ist dies mittlerweile für Millionen Deutsche offensichtlich. Doch auch das BVerfG ist Teil dieses Apparats und längst nicht so neutral, wie es große Teile der Öffentlichkeit glauben.
Nicht neutral
Dies wird unter anderem dadurch ersichtlich, dass es den bestehenden Zuständen mit teils enormer Kreativität die verfassungsrechtliche Legitimation gibt. Als Beispiel dafür kann das Wunsiedel-Urteil herangezogen werden, wonach ausnahmsweise gegen den klaren Wortlaut des Grundgesetzes doch ein strafrechtliches Sonderrecht zulässig ist – wenn es nur gegen die richtigen Oppositionellen geht. Ebenso diente die Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der Rundfunkgebühren im Jahr 2018 der Aufrechterhaltung des bestehenden öffentlichen Rundfunks. Dies erfolgte zwar mit sehr schwachen juristischen Argumenten, aber dafür umso größerer Praxisrelevanz – eine andere Entscheidung hätte über Nacht den ÖRR – und damit einen der größten metapolitischen Faktoren des ideologischen Staatsapparats – in seiner derzeitigen Form vor enorme Probleme gestellt. Nicht weniger kreativ war das BVerfG drei Jahre später, wonach es die Erhöhung der Rundfunkgebühren von 17,50 Euro auf 18,36 Euro als verfassungsrechtlich geboten hielten, da der ÖRR Anspruch auf eine „funktionsgerechte Finanzierung“ habe. Dass es sich um den teuersten ÖRR der Welt handelt und andere Sender wie die BBC mit einem Bruchteil der Gelder von ARD und Co. zurechtkommen, hat das BVerfG scheinbar nicht gestört. Da das Land Sachsen-Anhalt der Erhöhung wegen sozialpolitischer Einwände nicht zugestimmt hat, hat das BVerfG kurzerhand die „föderale Verantwortungsgemeinschaft“ der Länder für die Finanzierung des Rundfunks erfunden und festgelegt, dass die Länder nur zusammen von den Empfehlungen der „unabhängigen“ Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten aufgrund von soziopolitischen Einwänden abweichen dürfen. Eine solche „föderale Verantwortungsgemeinschaft“ und der daraus gezogene Schluss des BVerfG findet sich zwar weder im Grundgesetz noch in der bisherigen verfassungsrechtlichen Literatur, aber das hindert das BVerfG nicht daran, diesen einfach zugunsten des ÖRR zu erfinden. Der Klimabeschluss des BVerfG von 2021 ist nicht weniger „kreativ“ und geht weit über die Aufgabe einer Verfassungswahrung hinaus, hier wird durch die Rechtsprechung des BVerfG und aus der Verfassung heraus einer politischen Minderheit eine enorme Legitimität gegeben und der Gesetzgeber gleichermaßen zu einem politischen Handeln gezwungen. Darin zeigt sich auch die metapolitische Bedeutung des BVerfG: Die durch die Parteien gewählten Richter nicken selbstverständlich nicht jedes Handeln kritiklos ab, selbst bei einer Entscheidung gegen die Regierung liegen die Entscheidungen jedoch oft auf deren großen politischen Linie und geben ihren gesellschaftlichen und politischen Vorstellung die verfassungsrechtliche Legitimation.
Erfindung von Verfassungsprinzipien
Bezeichnend ist auch, wo und zu welchen Gunsten das BVerfG neue Verfassungsprinzipien erfindet – wie etwa die „föderale Verantwortungsgemeinschaft“ zugunsten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks – und wo es seine Hände in den verfassungsrechtlichen Schoß legt – wie bei der Ablehnung der Verfassungsbeschwerde der AfD wegen verweigerten Ausschussvorsitzen. Ohne weiteres hätte sich hier ebenfalls ein Verfassungsprinzip ähnlich der „föderalen Verantwortungsgemeinschaft“ erfinden lassen, hier jedoch beschränkt es sich (zutreffend) darauf, dass es verfassungsrechtlich nun mal keinen Anspruch auf einen Ausschussvorsitz gibt. Damit wird es einmal mehr zum Wahrer der Hegemonie der Altparteien, indem sie ihr politisches Handeln rechtlich legitimiert. Seine wichtigste Funktion besteht jedoch nicht in der Entscheidung über Ausschussvorsitze, sondern unzweifelhaft darin, zu entscheiden, was als verfassungsfeindlich gilt und was nicht. Hier kommt nicht nur konkret das Parteienverbot als Fortsetzung der Politik mit juristischen Mitteln zu tragen, viel mehr stellen die Entscheidungen des BVerfG eine Entziehung der Legitimität des als verfassungsfeindlich gebrandmarkten dar. Die Beurteilung als verfassungskonform oder verfassungsfeindlich stellt eine metapolitisch starke Waffe dar, die einseitig gegen die Opposition angewandt wird und weitere Maßnahmen gegen diese eröffnet. Das BVerfG erfüllt damit eine explizit politische Funktion: die Freund-Feind Unterscheidung. Und auch die Ausübung dieser Position ist wieder davon abhängig, wer die Richter besetzt – ist der Bewahrer des deutschen Volkes Verfassungsfeind oder der, der es durch Masseneinwanderung abschafft und verdrängt? Das entscheidet in der Bundesrepublik der, der den Hüter der Verfassung besetzt.
Beitragsbild / Symbolbild: Christin Klose; Bild oben: NitPicker, Design Rage, Sahara Prince, Respiro, Brian-A-Jackson / alle Shutterstock.com
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