Von Jakob Maria Mierscheid (Zugleich eine Replik auf den vorangegangenen Beitrag im Freiburger Standard)

Der Staat Israel ist ein Staat sui generis. Seine Ambivalenz drückt sich ideengeschichtlich dergestalt aus, dass eine (zunächst) säkulare Ideologie, die sich durchaus in die Reihe der europäischen Nationalismen einreihen lässt, sich zugleich auf einen alttestamentarischen Mythos stützt. Der biblisch vermittelte territoriale Anspruch auf Erez Israel ist die politische Theologie Israels. Dementsprechend widersprüchlich nehmen sich auch die Begründungen und Herleitungen des zionistischen Projekts aus. Neben dem Wunsch zu einem Volk unter anderen Völkern, zu einem Staat neben anderen Staaten zu werden (so etwa bei Herzl) tritt auch der jüdische Exceptionalismus auf den Plan. So finden sich bei Moses Hess zahlreiche Passagen, die die Auserwähltheit der Juden unterstreichen und zugleich die Sorge äußern, dass das jüdische Volk durch Assimiliation und Integration in die Völker dieser Welt untergehen könne.

Die drei Leitmotive des Zionismus
Das zionistische Projekt führte zunächst ein Nischendasein in und außerhalb des Judentums, wenngleich es mit der sog. Balfour-Deklaration bereits früh beachtliche außenpolitische Erfolge für sich verbuchen konnte. Doch erst mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Judenverfolgung erhielt das Projekt den entscheidenden Auftrieb und internationalen Rückhalt. Die heterogene Struktur des Zionismus lässt sich folglich auf drei Leitmotive zurückführen:

  1. Der Zionismus ist Teil der europäischen Nationalismen.
  2. Seine Grundlage findet er in einer Überschneidung von theologischen und „völkischen“ Motiven.
  3. Seine endgültige globale Legitimation erhielt der Zionismus nach dem Zweiten Weltkrieg.

Israel und der Westen
Ein derartiges ideengeschichtliches „Bündel“ zieht notwendigerweise zahlreiche Projektionen auf sich. Denn ähnlich heterogen wie die ideologische Selbstlegitimation Israels ist seine Staatspraxis. So kann kein Zweifel darüber bestehen, dass es staatsorganisationsrechtlich ein moderner europäischer liberaldemokratischer Verfassungsstaat ist. Daneben aber zeigt sich über die Besatzungs-, Überfalls- und Vertreibungspolitik ein anderes Gesicht dieses Staates. Dieses ist Gegenstand vergangener und gegenwärtiger teils erbittert geführter Kontroversen, die seit dem Angriff vom 07. Oktober 2023 und der laut Judikatur des IGH den Tatbestand des Völkermordes zumindest streifenden israelischen Reaktion an zusätzlicher Schärfe gewonnen haben.

Ernst Nolte hat in seinen Späten Reflexionen auch sein eigenes „Hin-und Hergerissensein“ gegenüber Israel eindrücklich beschrieben:

„[…] Trotzdem galt Israel, und nicht ohne Grund, als authentischer Teil der westlichen und demokratischen Welt; es blühte wirtschaftlich auf, wenngleich nicht ohne Hilfe der riesigen Unterstützungszahlungen, die vornehmlich aus den USA und der Bundesrepublik Deutschland kamen; es entwickelte eigene hocheffiziente Industrien […]; es war in seinen Gelehrten ein hochgeschätztes Mitglied der „wissenschaftlichen Welt“ und es wurde ihm eine beachtliche Zahl an Nobelpreisen zuteil. Es war also nicht nur ein Eroberungs-, Unterdrückungs-, und Raubstaat, und insofern stellte es eine besonders starke Herausforderung für das Nachdenken dar, aber zugleich die mächtigste Versuchung, vorbehaltlos die Partei der Glorifizierung oder diejenige der radikalen Kritik zu ergreifen.“ (Ernst Nolte, Späte Reflexionen, S. 103.)

Gerade in Deutschland ist Israel für die einen ein Staat, dem man schon wegen der deutschen Vergangenheit grenzenlose Treue schulde. Dienst an Israel ist insoweit Teil der ewigen Abbitte, die das deutsche Volk zu leisten hat. Für andere ist Israel hingegen die Speerspitze des sog. Westens inmitten einer düsteren und vorzivilisatorischen, islamischen Welt. Letztere Position parallelisiert letztlich die politische Konfrontation Europas mit der muslimischen Einwanderung mit der Lage der israelischen Besatzungspolitik. In ihrer Auseinandersetzung mit dem muslimischen Feind sind Israel und Europa aus dieser Warte Brüder im Geiste und Verbündete an der Waffe.

Faszination Israel?
Dass Israels Politik im Nahen Osten mitunter zu den Migrationsströmen aus dem arabischen Raum beitragen könnte, wird nicht einmal erwogen. Dabei streiten gewichtige – etwa durch Mearsheimers The Israel Lobby elaborierte Argumente dafür, dass der israelische Einfluss auf die US-Außenpolitik insgesamt zu einer Destabilisierung des Nahen Ostens geführt hat, die weder im eigentlichen Interesse der USA noch Europas liegen kann. Insoweit ist die Gleichschaltung der israelischen Interessen mit denen Europas oder der USA geopolitisch kaum zu begründen. Die Fremdindentifikation mit Israel führt in Deutschland und der übrigen Welt die verschiedensten, ja verfeindeten politischen Strömungen zusammen: von linksliberalen Globalisten bis neuen weißen Nationalisten, über rechtpopulistische bis hin zu zentristischen Strömungen. Sie alle scheinen von bestimmten Aspekten der israelischen Existenz – wörtlich – fasziniert zu sein.

Innerhalb des konservativen Milieus reicht die Fremdidentifikation teilweise sogar so weit, Kritik an der Einwanderung nicht mehr aus der Perspektive des „Eigenen“ zu formulieren, sondern als beschwörende Lehre aus der Vergangenheit zu präsentieren. Ein prominentes Beispiel gab der verstorbene Modeschöpfer Karl Lagerfeld, der die Grenzöffnung der Bundesrepublik im Jahre 2015 mit den Worten kritisierte, dass man nicht Millionen von Juden töten, und gleichzeitig ihre schlimmsten Feinde hereinlassen könne. Seinen „Abscheu“ (sic!) gegenüber Merkel verlieh er dadurch Ausdruck, dass dank Merkel nun wieder eine „Nazi-Partei“ – gemeint waren die Mandatare der AfD – im Bundestag sitze. Nun ist Karl Lagerfeld kein politischer Theoretiker gewesen. Seine Aussagen sind dennoch exemplarisch für die psychopolitische Tiefenstruktur des „konservativen“ Philozionismus, der etwa in Publikationen wie Tichys Einblick, Achse des Guten, PI News seine Foren herausgebildet hat.

Der verbreitete Philozionismus
Dieser versucht nämlich mehrere, tendenziell widersprüchliche Ideologeme miteinander zu versöhnen. So wird die berechtigte Kritik an der Masseneinwanderung und der damit drohenden ethnischen Verdrängung des eigenen Volkes versucht, mit den Imperativen der Vergangenheitsbewältigungsideologie zu vereinen. Zugleich dient der ostentative Antifaschismus dazu, den Verdacht der Ausländerfeindlichkeit, des Rassismus usf. weit von sich zu weisen. Nie wieder heißt somit, jetzt für Israels Besatzungs- und Vertreibungspolitik aufstehen. Die vielbeschworene Lehre aus Auschwitz ist es, nicht mehr zwischen Kombattanten und Zivilisten zu unterscheiden, sondern unterschiedslos ein „Feindvolk“ zu bekämpfen. Soweit, so merkwürdig.

Der den zweiten Historikerstreit initiierende Genozid-Forscher Dirk A. Moses wies in zahlreichen Beiträgen auf den ideologisch-politischen Gehalt der deutschen Vergangenheitsbewältigung hin. Nicht so sehr ging es dabei um Reue oder Trauer, sondern um die Einbindung Deutschlands und seiner Eliten in das kollektive System des Westens. Voraussetzung hierfür sei, dass der Holocaust seine Singularität schon deswegen behalten müsse, da der wissenschaftsmethodisch naheliegende Vergleich mit der Besatzung-, Vertreibungs-, und Säuberungspolitik der anderen Kolonialmächte das Ideologem des „Westens“ insgesamt in Frage stellen würde, da Deutschlands langer Weg nach Westen nicht etwa mit der Gründung der Bundesrepublik begann. In diesem Zusammenhang wird gerne unterschlagen, dass sich der NS keineswegs primär als antiwestlich verstand. So suchten die federführenden Kreise der NSDAP, allen voran Hitler selbst die Nähe zu Großbritannien. Den ebenfalls in der frühen Phase der Partei enthaltenen antiwestlichen und „befreiungsnationalistischen“ Kräften erteilte Hitler bereits früh, so etwa in seiner Düsseldorfer Rede vor dem Industriellen-Klub, eine Absage. Die Konsequenzen einer solchen Sichtweise vermag das zum politischen Ritual erstarrte Gedenken nicht zu teilen. Denn insoweit wäre der Nationalsozialismus nicht der Bruch mit dem Westen, sondern nur die Fortführung und Radikalisierung des alten, europäischen Kolonialstaates. 

Das Sparta des Westens?
Das kürzlich hier im Freiburger Standard rezensierte Buch, Wenn Israel fällt, dann fällt der Westen bereitet eine alte These propagandistisch auf. So war es der Philosoph Leo Strauss, der Israel in einer seiner wenigen tagespolitischen Äußerungen als Sparta des Westens apostrophierte. Strauss war als Student Martin Heideggers in jungen Jahren einer „rechten“ Option für Deutschland und Europa durchaus zugeneigt. Sein persönliches Schicksal, als deutscher Jude in den 1930er Jahren zur Auswanderung gezwungen zu sein, veranlasste ihn eine umfassende Kritik der Moderne zu entwerfen, in welcher cum grano salis die herrschenden Ideologien des 20. Jahrhunderts Liberalismus, Faschismus und Kommunismus als Ausprägungen eines von der Philosophie Nietzsches, Webers und Heideggers vorbereiteten gleichgültigen Nihilismus gesehen wurden. Seine Kritik an Schmitts Begriff des Politischen ist aufgrund des daraus entstehenden Briefwechsels ein kontroverser Gegenstand der Schmitt-und Strauss- Forschung. So vertritt etwa Heinrich Meier, dass Strauss die Weiterentwicklung und Neufassung des BdP und Schmitts Hinwendung vom Dezisionismus zum konkreten Ordnungsdenken wesentlich mitgeprägt habe.

Doch zurück zu Israel und seinen deutschen Freunden
Das in Rede stehende Buch ist wohl als Argumentationsleitfaden für die öffentliche und private Verteidigung der israelischen Interessenpolitik gedacht. Es reiht sich damit ein in eine Argumentationsstruktur, von der manche behaupten, dass sie als Hasbara Teil einer globalen israelischen Öffentlichkeitsarbeit sei. Ihre schärfste Waffe ist die Platitüde. So wird das mit der Staatsgründung Israels verbundene Programm der Vertreibung und ethnischen Säuberung im Jahre 1948 entweder als logische Folge auf die arabischen Kriegserklärungen dargestellt, oder wider alle Forschungsstände gänzlich geleugnet bzw. anhand der sehr allgemeinen Aussage, jede Staatsgründung sei ja mit Unrecht verbunden, in eine historische Reihe a la „Da, wo gehobelt wird, da fallen Späne“ gestellt.

Dass Staaten nicht nur durch Parlamentsreden, sondern eher durch „Blut und Eisen“ entstehen, mag richtig sein, verschleiert aber das historisch Besondere an der ideologischen Selbstlegitimation Israels: denn im Kern ist die Berufung auf einen biblischen Mythos im Zeitalter säkularer Staaten nicht nur vormodern, sondern auch ideologisch radikaler als es die Lebensraumtheorien und der Kolonialismus je sein konnten. Es ist ein einzigartiger Vorgang gewesen, einen Staat inmitten einer arabischen Mehrheitsbevölkerung zu gründen, wobei auch aus völkerrechtlicher Sicht die UN keineswegs berechtigt war, einen Teilungsbeschluss zu formulieren, bei dem das Vetorecht der umliegenden arabischen Staaten hätte selbstverständlich sein müssen.

Ursache und Wirkung vertauscht
Dazu reihen sich in dem Artikel einige schon in der Rechtfertigung der Sklaverei und Apartheid bewährte Erwägungen. So könne niemand so gut für die Menschen in der Region sorgen, wie der Staat Israel selbst. Dies ist eine Hypothese, die in ihrer Verwechslung von IDF und Heilsarme sich nahezu obszön ausnimmt. Ebenso zu den Schlagern israelischer Propaganda gehört das Argument, dass man mit niemandem verhandeln könne, der einem das Existenzrecht abspräche. Dieser Gedanke vertauscht indes Ursache und Wirkung. Denn die zweifellos vorhandene Delegitimierung Israels in Teilen der Palästinenser und der arabisch-muslimischen Welt ist nichts anderes als die dialektische Entsprechung zum permanent vorenthaltenen Recht auf Selbstbestimmung des palästinensischen Volkes. Im Übrigen ist das palästinensische Volk in der Diktion zahlreicher Israel-Apologeten gar nicht existent. Dies ist widersprüchlich, da in der israelischen Diskussion die Massaker im Gaza-Streifen als Teil einer Kollektivstrafe gerne gerechtfertigt werden. Doch eine Kollektivstrafe setzt ein Kollektivsubjekt voraus.

Gibt es das palästinensische Volk oder nicht?
Die permanente Negation des palästinensischen Volkes ist wohl als nichts anderes als die semantische Vorwegnahme der jüngst auch vom israelischen Verteidigungsminister mehr als angedeuteten ethnischen Totalsäuberung des Gaza-Streifens zu verstehen. Neben der bewährten Verschleierungsrhetorik taucht an entscheidender Stelle ein frappierendes Argument auf. Denn die These, dass der Westen falle, wenn Israel fällt, fußt – so muss man erfahren -gar nicht so sehr auf Zuneigung zum Staate Israel, sondern auf der Furcht vor den Konsequenzen der Rückkehr der Juden nach Deutschland im Falle eines israelischen Scheiterns. Wörtlich heißt es:

„Deutschland hätte im Fall des Sieges über Israel allen Grund, von den 7,2 Millionen Juden der dortigen Bevölkerung von insgesamt zehn Millionen ebenso viele aufzunehmen, wie es vor 80 Jahren umbrachte – rund 6 Millionen. Dann allerdings würden in unserem Land in etwa gleich viele Millionen Muslime den Juden gegenüberstehen und würden diesen hier vermutlich das Leben zur Hölle machen. Dann würde aus dem Nahostkrieg ein ebensolcher Krieg hier mitten in Europa. Nach Israel würde als nächstes Deutschland fallen.“

Dies ist eine kühne These, verknüpft sie doch einige, keineswegs zwingende Annahmen miteinander. So ist es unwahrscheinlich, dass der hohe Anteil an in den vergangenen Jahren nach Israel eingewanderten orientalischen und russischen Juden im „Falle des Falles“ nach Deutschland „zurück“ wollten. Im Kern hält der Autor die Juden also, sobald sie im eigenen Lande stehen, für Katalysatoren des Bürgerkriegs, wenngleich natürlich die als homogene vernichtungslüsterne Masse fingierten Muslime damit anfangen würden, den Juden „das Leben zur Hölle zu machen.“

Falsche Perspektiven
Im Kern krankt die in Buch und Rezension enthaltene Perspektive daran, dass sie internationale Beziehungen und geopolitische Interessen nur aus der Warte der deutschen Vergangenheit betrachten kann. Auch übersieht sie grundsätzlich den Abstieg des sogenannten Westens als homogene Einheit. Die westlich, pro-zionistische Perspektive ist etwa im ibero-lateinamerikanischen Raum kaum noch vermittelbar. In diesen Zusammenhang gehört, dass sich Spanien als im lateinamerikanischen Raum immer noch kulturell wirkmächtiger Staat der am IGH anhängigen Völkermordklage gegen Israel vor kurzem anschloss. Global betrachtet sind es im Kern nur noch drei gewichtige Länder, die die Politik Israels unterstützen, nämlich die USA, Großbritannien und Deutschland. Zur Tragik der bundesrepublikanischen Vergangenheitsbewältigung gehört, dass sie die gewünschte Lösung von der Partikularität der eigenen nationalstaatlichen Existenz nicht herbeiführt, sondern der aufgesetzte Kosmopolitismus und „Westextremismus“ (Thor von Waldstein dixit) zu einer eigenartigen Reproduktion der verabschiedet geglaubten provinziellen Borniertheit führt.

Diese Replik bezieht sich auf diesen Beitrag im Freiburger Standard!

Beitragsbild / Symbolbild und Bild oben: Mo Photography Berlin; Bild darunter: Buchcover; Bild in der Mitte: motioncenter; Bild unten: Andy.LIU / alle Shutterstock.com (bis auf Buchcover)

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