Von Gerhard Vierfuß
(Fortsetzung von Teil 1) Ist die Junge Alternative zu radikal für die AfD? Bringt sie durch ihre Programmatik und ihr Auftreten die Mutterpartei der Gefahr eines Parteiverbots näher und ist deswegen eine Belastung für die AfD? Viele in der Partei sind dieser Meinung und begrüßen es deswegen, dass ihr Bundesvorstand die JA durch eine neue, für seinen „Durchgriff“ (A. Weidel) offene Organisation ersetzen will. Aber hat diese Meinung eine reale Grundlage?
„…stellen keine Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen dar“
Der sicherste Weg, dies zu überprüfen, ist die genaue Lektüre der Urteile des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen (OVG NRW) in den Verfahren um die Beobachtung der AfD und der JA durch den Verfassungsschutz. Diese beiden Urteile – sowie ein drittes zum ehemaligen Flügel der AfD – vom 13. Mai 2024 sind die bis jetzt einzigen obergerichtlichen Urteile, die sich mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit der AfD oder ihres politischen Umfeldes befassen. Sie können daher als der Goldstandard für die Beurteilung dieser Frage gelten.
Bewahrung der ethnisch-kulturellen Identität ist ein legitimes Ziel der Politik
Ich werde im folgenden die wesentlichen Aussagen der Urteile zusammenfassen und einander gegenüberstellen. Dabei werde ich mich auf den in jeder Hinsicht wichtigsten Bereich konzentrieren, denjenigen, der sich mit dem Schlagwort „ethnischer Volksbegriff“ kennzeichnen lässt. Da es sich hierbei um ein äußerst schwieriges und hochumstrittenes Thema handelt, werde ich ausführlich zitieren, um den Leser in die Lage zu versetzen, meine Auslegungen kritisch zu hinterfragen und sich ein eigenes Urteil zu bilden.
Die berühmten „Bestrebungen“
Die Schlussfolgerungen des 5. Senats des OVG NRW nach dem Studium tausender Seiten an VS-Akten, hunderter Seiten an Schriftsätzen und sieben Verhandlungstagen lauten für die AfD und die JA nahezu wörtlich gleich:
„Nach diesen Maßstäben lagen und liegen weiterhin tatsächliche Anhaltspunkte dafür vor, dass die Klägerin Bestrebungen verfolgt, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind, namentlich gegen die für den freiheitlichen demokratischen Verfassungsstaat unverzichtbaren Grundprinzipien der Menschenwürdegarantie (aa) und des Demokratieprinzips (bb)…“
So heißt es am Anfang der Subsumtion zur AfD; im JA-Urteil wird bei sonst vollständiger Übereinstimmung lediglich das Demokratieprinzip nicht genannt. Weiter heißt es zu beiden Klägerinnen, es bestehe der
„starke(n) Verdacht, dass die politischen Zielsetzungen […] auch beinhalten, den Schutz der Menschenwürde außer Geltung zu setzen.“
Und dann, wieder für beide Klägerinnen wörtlich identisch:
„Es liegen konkrete und hinreichend verdichtete Anhaltspunkte dafür vor, dass nach dem politischen Konzept der Klägerin jedenfalls Flüchtlingen und anderen Zuwanderern, deutschen Staatsangehörigen mit Migrationshintergrund und deutschen und ausländischen Staatsangehörigen islamischen Glaubens die Anerkennung als gleichberechtigte Mitglieder der rechtlich verfassten Gemeinschaft versagt werden soll.“
Auf dieser allgemeinen Bewertungsebene gibt es aus Sicht des OVG NRW keine Unterschiede zwischen AfD und JA.
Zur „ethnisch-kulturellen“ Volkszugehörigkeit
Sehen wir uns jetzt den Hauptvorwurf genauer an:
„Es besteht der begründete Verdacht, dass es den politischen Zielsetzungen jedenfalls eines maßgeblichen Teils der Klägerin entspricht, deutschen Staatsangehörigen mit Migrationshintergrund nur einen rechtlich abgewerteten Status zuzuerkennen, weil zu ihren zentralen politischen Vorstellungen gehört, dass es eine von der Staatsangehörigkeit unabhängige „ethnisch-kulturelle“ Volkszugehörigkeit gibt, die von entscheidender Bedeutung für die Bewahrung der deutschen Kultur und Identität ist und es deshalb rechtfertigt, bei rechtlichen Zuordnungen danach zu unterscheiden, ob und gegebenenfalls aus welchem Kulturraum deutsche Staatsangehörige oder deren Eltern zugewandert sind. Dies stellt eine nach Art. 3 Abs. 3 GG unzulässige Diskriminierung aufgrund der Abstammung dar, die mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren ist.“
Auch diese Formulierung findet sich nahezu wörtlich im JA-Urteil; lediglich die Einschränkung auf einen maßgeblichen Teil ist gestrichen. Aber was bedeutet diese Formulierung genau? Ist der ethnisch-kulturelle Volksbegriff etwa doch verfassungswidrig? – Nein! Wir erinnern uns: Bereits in der mündlichen Urteilsbegründung und der dazu veröffentlichten Pressemitteilung stellte das OVG NRW klar, dass dies nicht der Fall ist. Die damaligen Ausführungen finden sich auch in den schriftlichen Urteilen wieder:
„Das schließt es nicht aus, auch bei deutschen Staatsangehörigen „ethnisch-kulturelle“ Gemeinsamkeiten oder Unterschiede in den Blick zu nehmen. Allerdings handelt es sich dabei nicht um rechtliche Kategorisierungen und ist die Zugehörigkeit zu einer „ethnisch-kulturellen“ Gruppe daher nicht objektiv bestimmbar, sondern hängt von dem jeweiligen Begriffsverständnis ab. Dementsprechend ist auch die deskriptive Verwendung eines „ethnisch-kulturellen Volksbegriffs“ im Rechtssinn weder richtig noch falsch, sondern eine von persönlichen Wertungen abhängige Zustandsbeschreibung, die zum Beispiel soziologische, ethnologische oder historische Differenzierungen einbeziehen kann. Verfassungswidrig und mit der Menschenwürde unvereinbar ist allerdings die Verknüpfung eines „ethnisch-kulturellen Volksbegriffs“ mit einer politischen Zielsetzung, mit der die rechtliche Gleichheit aller Staatsangehörigen in Frage gestellt wird.“
Diese Formulierung könnte man so verstehen, dass ausschließlich die Verwendung des Begriffs in darstellenden Kontexten unproblematisch sei, also etwa um darauf hinzuweisen, dass es ethnische Deutsche, Dänen, Friesen, Sorben und Zigeuner unter den deutschen Staatsangehörigen gibt. Doch dieses Verständnis wäre falsch. Dies zeigt eine weitere, überraschende Passage der Urteile. Nach einigen Überlegungen zur Erklärung zum deutschen Staatsvolk und zur deutschen Identität der AfD heißt es:
„Die Formulierungen „ethnisch-kultureller Hintergrund“ und „Abkömmling einer seit Jahrhunderten in Deutschland lebenden Familie“ machen dabei deutlich, dass für die Klägerin nicht nur die kulturelle Prägung, sondern auch die Abstammung von maßgeblicher Bedeutung für die „ethnisch-kulturelle Identität“ ist. Insbesondere Björn Höcke verknüpft diese Zuordnung mit dem Begriff „Volk“, das er als „dynamische Einheit aus Abstammung, Sprache, Kultur und gemeinsam erlebter Geschichte“ beschreibt, und fordert, „die Völker [zu] bewahren“. […] Dabei hält er nach eigenen Angaben nicht jegliche Veränderung für problematisch, sondern sieht vor allem eine „Masseneinwanderung“ kritisch […]. In ähnlicher Weise formulierte im Februar 2019 auch Alexander Gauland, damals Bundessprecher und heute Ehrenvorsitzender der Klägerin, „[d]as elementare Bedürfnis eines Volkes besteh[e] darin, sich im Dasein zu erhalten“, und erklärte dazu, dass es nicht um eine „ethnische Reinheit“ gehe, gegen eine allmähliche Veränderung des Volkes nichts zu sagen sei, aber eine übermäßige Migration die eigene Identität bedrohe […]. Diese Aussagen stellen für sich genommen keine Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen dar.“
Was das OVG NRW hier als verfassungsrechtlich unproblematisch qualifiziert, ist weit mehr als die Verwendung des ethnischen Volksbegriffs in deskriptiven Kontexten. Es ist vielmehr, was Martin Sellner als das „rechte Hauptziel“ bezeichnet: das Ziel, die ethnisch-kulturelle Identität des deutschen Volkes zu bewahren.
Wenn die Verfolgung dieses Ziels also nicht der Grund dafür ist, dass der Verfassungsschutz (VS) die AfD und die JA beobachten darf, was ist es dann? Sehen wir uns den oben zitierten Hauptvorwurf noch einmal genau an. Die entscheidende Formulierung steht im Relativsatz und lautet so:
„…und es deshalb rechtfertigt, bei rechtlichen Zuordnungen danach zu unterscheiden, ob und gegebenenfalls aus welchem Kulturraum deutsche Staatsangehörige oder deren Eltern zugewandert sind.“
Das wesentliche Merkmal, das eine verfassungsrechtlich unproblematische zu einer verfassungswidrigen Verwendung des ethnischen Volksbegriffs macht, ist die rechtliche Diskriminierung anhand dieses Merkmals innerhalb der deutschen Staatsbürger. Ein AfD-Politiker, der das verstanden hat, ist in der Lage, genuin rechte Politik, Politik für das Volk zu machen und gleichzeitig seine Partei aus der Beobachtung durch den VS zu befreien.
Warum gelingt das der AfD bis jetzt nicht?
Sehen wir uns die konkreten Formulierungen an, auf die das OVG sein Urteil stützt. Anhaltspunkte dafür, dass „zur Bewahrung der ,ethnisch-kulturellen Identitätʹ gegebenenfalls auch diskriminierende Maßnahmen gegenüber deutschen Staatsangehörigen mit Migrationshintergrund herangezogen werden sollen“, sieht das Gericht zunächst in:
„…zahlreichen Äußerungen, die Zuwanderung als unmittelbare Gefahr für den Bestand des deutschen Volks darstellen, ohne dass sich aus dem Kontext ergibt, dass damit lediglich den zulässigen Forderungen nach einer restriktiven Migrations- oder Einbürgerungspolitik Nachdruck verliehen werden soll.“
Genannt werden als Beispiele die Worte „Umvolkung“, „Volksaustausch“ und „Volkstod“, aber auch eine Formulierung von Björn Höcke, der zufolge „die Kategorie ,Volkʹ der zentrale Orientierungspunkt in unserem politischen Denken und Handeln“ sein sollte.
Wo ist die Grenze zum Unzulässigen?
Hier wird es nun schwierig, eine Grenze zu erkennen zwischen dem eben noch als unproblematisch hervorgehobenen Verfolgen des rechten Hauptziels und einem politischen Vorgehen, das als Anhaltspunkt für später erfolgende diskriminierende Maßnahmen gegen deutsche Staatsbürger fremder Herkunft genommen werden kann. Nach Auffassung des OVG NRW scheint diese Grenze dort zu verlaufen, wo ein Zusammenhang hergestellt wird zwischen der Gefahr für die ethnisch-kulturelle Identität des deutschen Volkes und dem Anteil der deutschen Staatsangehörigen fremder Herkunft. Dies ist der problematischste Teil dieser beiden Urteile, weil dadurch Kritik an der Einbürgerungspolitik der vergangenen Jahrzehnte sehr leicht zur Beobachtung durch den VS führt.
Anhaltspunkte für eine mögliche spätere Diskriminierung?
Einen eindeutigen Anhaltspunkt dafür, dass deutschen Staatsangehörigen fremder Herkunft nur ein rechtlich abgewerteter Status zugestanden wird, sieht das Gericht in der häufigen Verwendung der Bezeichnung „Passdeutscher“ durch zahlreiche AfD-Politiker. In die gleiche Kategorie fallen Bemerkungen wie die von Alexander Gauland, „eine deutsche oder eine englische Nationalmannschaft sind eben schon lange nicht mehr deutsch oder englisch im klassischen Sinne“. Und schließlich sieht das Gericht Anhaltspunkte für mögliche spätere Diskriminierung in Äußerungen über Migranten, die ein „ethnisch-biologisches“ Volksverständnis ausdrücken, weil damit deutlich werde, dass etwa Migranten dunkler Hautfarbe durch eine Einbürgerung niemals Deutsche werden könnten.
Die Belege für den Verdacht gegenüber der JA, sie ziehe zur Erreichung ihres Ziels, die ethnisch-kulturelle Identität des deutschen Volkes zu erhalten, auch diskriminierende Maßnahmen gegen deutsche Staatsbürger fremder Herkunft in Betracht, ähneln weitgehend denen im Fall der AfD: Bezeichnung der deutschen Nationalmannschaft als „durchmultikulturalisierte […] Söldnertruppe“; die pauschale Bezeichnung der in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund als „Nichtdeutsche“ (obwohl ja ein Teil von ihnen die deutsche Staatsangehörigkeit hat); eine Interviewäußerung, einen vollständig assimilierten deutschen Staatsangehörigen mit türkischen Wurzeln nicht hundertprozentig als Deutschen anzusehen, „wenn seine Eltern beide Türken sind“ (…).
Der JA-Deutschlandplan als Beweis
Anders als bei der AfD führt das OVG NRW im Fall der JA auch ein offizielles Dokument als Beleg an: das frühere Programm der JA, den Deutschlandplan. Darin wurde unter der Überschrift „Leitbild des assimilierten und loyalen Einwanderers“ erläutert, dass von allen Einwanderern verlangt werden müsse, sich zu assimilieren, und dies bedeute, dass der Einwanderer sich „soweit dem deutschen Volk und seinem Staat verbunden fühlt, dass er bereit ist, für sie einzutreten und unsere Identität an kommende Generationen so weiterzugeben, wie es autochthone Deutsche tun“ (Deutschlandplan vom 2./3. Juni 2018, S. 22). Das klar formulierte Ziel, das deutsche Volk nicht nur kulturell, sondern auch „ethnisch“ zu erhalten, und die begriffliche Abgrenzung des „assimilierten Einwanderers“ vom „autochthonen Deutschen“ bringen zum Ausdruck, dass deutsche Staatsangehörige erster und zweiter Klasse existieren und Idealbild gerade der autochthone Deutsche ist.
Vom VS abgeschrieben?
Dies ist einer der schwächsten Abschnitte der beiden von mir untersuchten Urteile. Das Gericht übernimmt hier – anders als bei seinen wesentlichen und die Vorinstanz korrigierenden Erläuterungen zum ethnisch-kulturellen Volksbegriff – unreflektiert die Formulierungen des Verwaltungsgerichts Köln, die dieses wiederum vom VS abgeschrieben hatte. Dass die „begriffliche Abgrenzung des ,assimilierten Einwanderers‘ vom ,autochthonen Deutschen‘“ zum Ausdruck bringe, „dass deutsche Staatsangehörige erster und zweiter Klasse existieren“, ist schlicht absurd, da doch diese begriffliche Abgrenzung gerade dazu dienen soll, zu erklären, dass diese beiden Gruppen als völlig gleichwertig angesehen werden. Hier hat der Berichterstatter des Senats schlampig gearbeitet und der Vorsitzende geschlafen.
Mein Fazit
Die Anfangsfrage lautete: „Ist die Junge Alternative zu radikal für die AfD?“ Das Ergebnis dieser Untersuchung ist ein klares „Nein!“ An den Befunden des OVG NRW lassen sich keine erheblichen Unterschiede zwischen AfD und JA im Hinblick auf eine Rechtfertigung staatlicher Maßnahmen gegen sie ausmachen. Vielen Funktionären beider Organisationen ist die – wie oben gezeigt tatsächlich schwer zu findende – Grenze zwischen legitimem Eintreten für die ethnisch-kulturelle Identität des deutschen Volkes und verfassungsrechtlichen Argwohn weckender Überbetonung ethnisch-kultureller Differenzen innerhalb des deutschen Staatsvolks nicht hinreichend bewusst. Anstatt die Junge Alternative für ihr jugendgemäß radikaleres Auftreten zu kritisieren, sollte die AfD-Führung über Wege nachdenken, die alle sicher durch dieses verminte Gelände führen.
*Hervorhebung durch den Verfasser.
Der Autor ist Rechtsanwalt und äußert sich auf X, vormals Twitter, unter „@derrechteanwalt“ regelmäßig zum politischen Geschehen.
Hinweis: Es handelt sich bei dem Beitrag um den zweiten von zwei Artikelteilen. Der erste Teil findet sich hier!
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