Von Jakob Maria Mierscheid
Einleitend sei daran erinnert, dass der Staat Israel mit einer großflächigen Militäroperation im Gazastreifen auf den Angriff der Hamas am 7. Oktober vergangenes Jahres reagierte. Gemäß den Verlautbarungen der Regierung und Militärführung ist Ziel des Vorgehens, die gesamte paramilitärische Struktur der Hamas zu zerschlagen, um der latenten Bedrohung endgültig ein Ende zu bereiten und eine Wiederholung des als Israels 9/11 apostrophierten Angriffs vom 07. Oktober für alle Zukunft auszuschließen. Bereits im November vergangenen Jahres deuteten Berichte darauf hin, dass das israelische Militär 25.000 Tonnen Sprengstoff im Gazakrieg eingesetzt hat. Dies entspräche der Sprengkraft zweier in Hiroshima eingesetzten Atombomben. Stand heute sind über eine Million Palästinenser auf der Flucht und etwa zwei Drittel der Gebäude zerstört. Die politisch-administrativen Voraussetzung jeglicher nationalen Selbstbestimmung der Palästinenser wurde damit auf lange Sicht die Grundlage entzogen. In den vergangenen Tagen scheint Israel zudem auch auf eine direkte zwischenstaatliche Konfrontation mit dem Libanon zu forcieren. Diese jüngste militärische Ausweitung des Krieges durch Israel ist einer weiteren Betrachtung vorbehalten. Vorliegend soll allein das militärische Vorgehen Israels im Gazastreifen analysiert werden.
Dieses Vorgehen zeitigte bereits jetzt völkerrechtliche Folgen
So reichte Südafrika beim IGH Klage wegen des Vorwurfs des Völkermordes gegen Israel ein. Das Klagebegehren richtete sich darauf, dass der IGH feststelle, dass Israel einen Völkermord begehe und in der Folge Israel anweise, alle militärischen Aktionen einzustellen. Diesem Klagebegehren gab der Gerichtshof insoweit statt, dass er mit überwältigender Mehrheit unter Zustimmung des ehemaligen israelischen Richters am Obersten Gerichtshof Barak die Gefahr eines Völkermordes gegeben sah und Israel auf Maßnahmen zur Verhütung dessen verpflichtete. In diesem Zusammenhang hat auch der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs Haftbefehle sowohl gegen den Führer der Hamas Sinwar wie den israelischen Regierungschef Netanyahu beantragt.
Verletzung des Völkerrechts unstrittig
Es ist aus juristischer Sicht hinreichend klar, dass der modus operandi der israelischen Streitkräfte das humanitäre (Kriegs-)völkerrecht verletzt. Offenbleiben kann an dieser Stelle, ob Israel tatsächlich die Grenze zum Völkermord überschritten hat. Festzuhalten ist jedenfalls, dass die notorische Verteidigung Israels durch die westlichen Staaten bröckelt. So ist etwa Spanien als erster EU-Staat der Völkermord-Klage Südafrikas beigetreten. Eine andere grundsätzliche Frage ist, ob und inwieweit sich Israel seit dem 07.Oktober 2023 überhaupt auf das Selbstverteidigungsrecht berufen konnte. Problematisch sind zwei Aspekte: Zum einen richtete sich der Angriff der Hamas nicht nur gegen das anerkannte Staatsgebiet Israels, sondern fand auf von israelischen Siedlern und Behörden besetzten Gebieten statt. Das Selbstverteidigungsrecht der Staaten dient aber der Sicherung ihrer Souveränität, also ihrer territorialen und politischen Selbstbestimmung. Eine schematische Anwendung des Selbstverteidigungsanspruchs erscheint daher fragwürdig. Zum anderen knüpft staatliche Selbstverteidigung zeitlich an die Gegenwärtigkeit des Angriffs an. Wann diese zeitliche Grenze gegeben oder überschritten ist, tritt in der gegenwärtigen Auseinandersetzung nicht hinreichend klar hervor. Israels Vorgehen entspricht seit dem Sechs-Tage-Krieg traditionell der umstrittenen Rechtsfigur der präventiven Verteidigung, teilweise in bedenklicher Nähe zu der von den USA im zweiten Irakkrieg vertretenen preemptive strik- Doktrin. Abgestellt wird hierbei auf den an sich richtigen Grundgedanken, dass es einem potenziell Angegriffenen nicht zumutbar ist, bis zum Beginn des Gewaltakts zuzuwarten.
Der rechtliche Rahmen: vom ius ad bellum zum ius contra bellum
Diese rechtlichen Fragestellungen veranlassen zu folgender rechtshistorischer Rückblende: Das klassische nach dem Westphälischen Frieden entstandene Völkerrecht geht von der souveränen Gleichheit der Staaten aus. Als solche sind die Staaten die Träger des Gewaltmonopols nach innen und außen. Verbunden mit dieser rechtlichen Doktrin ist das Recht des Staates, Krieg zu führen, das ius ad bellum. Das von Clausewitz geprägte Diktum, dass der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei, bringt die völkerrechtliche Struktur des staatszentrierten Völkerrechts zum Ausdruck. Clausewitz´ Theorem ist keinesfalls als reine Kriegsbejahung zu verstehen, legt es doch vielmehr fest, dass mit dem Krieg eine politische Zielsetzung verbunden sein muss. Somit ist das Politische dem Krieg vorgeordnet. Der Krieg findet somit seinen Grund, aber auch seine Grenze in der politischen Entscheidung. Doch spätestens mit der Entwicklung moderner Waffensysteme und dem immer höheren Verbrauch an humanen und materiellen Ressourcen geriet die klaren Unterscheidungen des paritätischen Kriegssystems unter Druck.
Der „Weltbürgerkrieg“ als völkerrechtliche Zäsur
Bereits nach dem Ersten Weltkrieg begann die Hinwendung zum nicht paritätischen diskriminierenden Kriegsbegriff (Schmitt). So sah Art. 227 des Versailler Vertrages vor, dass gegen Kaiser Wilhelm II Anklage vor einem internationalen Gericht wegen schwerwiegender Verletzungen der internationalen Moral und der Unverletzlichkeit der Verträge erhoben werden sollte und die Niederlande die Auslieferung bewilligen sollte. Hierzu kam es allerdings nicht. Ein weiterer Schritt zur Fortentwicklung des völkerrechtlichen Gewaltverbots war der Briand-Kellog-Pakt von 1928, dem alsbald die meisten Staaten beitraten. Allerdings knüpfte dieser an das Gewaltverbot keine Rechtsfolge in Form einer Sanktion, so dass hinreichende rechtliche Unklarheiten verblieben.
Das System kollektiver Sicherheit: das absolute Gewaltverbot und seine Durchbrechungen
Unter dem Eindruck der Schrecken des Zweiten Weltkriegs war die Gründung der UNO mit der Statuierung eines umfassenden Gewaltverbots zwischen den Staaten verbunden. Art. 2 Nr. 4 UNCh postuliert:
„Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jeden gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“
Verbunden war dies mit dem Ziel einer umfassenden Abkehr vom ius ad bellum, wonach beide Kriegsparteien als gleichberechtigte Akteure gesehen wurden.
Das neue Staaten- und Völkerrecht ist ein auf prinzipielle Gewaltverhütung angelegtes ius contra bellum
Mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte entstand zudem eine umfassende Charta, welche staatliches Handeln an universelle Prinzipien bindet. Beide Entwicklungen sind unmittelbar mit der Frage nach einer allgemeinen Rechtsentscheidungsinstanz sowie einer Rechtsdurchsetzungsinstanz verknüpft. Somit hatte es seine Folgerichtigkeit, dass neben dem Gewaltverbot eine Klausel zur zulässigen Gewaltanwendung durch ein Mandat des Sicherheitsrats nach Kapitel VII UNCh sowie durch das staatliche Selbstverteidigungsrecht trat, welches subsidiär zu etwaigen Maßnahmen des Sicherheitsrats anzuwenden ist. Der Maßnahmenkatalog, bestehend aus nicht-militärischen und militärischen Zwangsmaßnahmen des Kapitel VII, reagiert auf den Fall, dass „eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt“.
Wann liegt ein bewaffneter Angriff vor?
Die Definition des bewaffneten Angriffs weist folgende Merkmale auf: koordinierten militärische Schläge in Form von Invasion und Besetzung fremden Staatsgebiets, Beschießung und Bombardierung, Zufahrtsblockaden, direkter Angriff auf fremde Streitkräfte usw. Das Selbstverteidigungsrecht hingegen orientiert sich an einer strafrechtlichen Analogie. So wird dieses im Falle eines gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriffs gewährt, solange der UN- Sicherheitsrat noch nicht wirksame Maßnahmen getroffen hat. Hierin zeigt sich eine weitere Parallele zum nationalen Strafrecht. Denn auch im nationalen Rahmen dienen Notwehrrechte keineswegs dazu, die Handlung der staatlichen Exekutivorgane – wie die der Polizei – zu ersetzen, sondern sie sind nur im Falle einer Bedrohungslage, die im konkreten Fall nicht durch staatliches Handeln abgewehrt werden kann, zu gewähren.
In dieser Abstraktheit ist der völkerrechtliche Maßstab klar
Bei genauerem Hinsehen ergeben sich aber Schwierigkeiten: Die Übertragung nationaler juridischer Strukturen auf die internationale Ebene setzt ein der nationalen Ebene äquivalentes Entscheidungs- und Exekutivmonopol (Judikative beziehungsweise Exekutive) voraus. Von dem Bemühen, ein solches zu errichten, ist die Schaffung von internationalen Institutionen wie zum Beispiel Schiedsgerichten, Strafgerichten zum Zwecke der friedlichen Konfliktlösung geprägt. Im Unterschied zu nationalen Jurisdiktionen enthält aber die Satzung der UN keine Bestimmung, die auf Beschluss innerstaatliches Recht unmittelbar abändern könnte. Denn völkerrechtliche Institutionen mögen zwar mittlerweile eine gewisse Machtfülle haben, sie sind aber nicht souverän im eigentlichen Sinne, das heißt sie verfügen nicht über die Kompetenz, sich weitere Kompetenzen anzueignen (sogenannte Kompentenz-Kompetenz), sondern beruhen auf der Ermächtigung der sie gründenden souveränen Staaten (sog.enanntes Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung). Diese nicht neue Rechtsdurchsetzungsschwierigkeit des Völkerrechts führte dazu, dass die Existenz des Völkerrechts gänzlich geleugnet wurde. Einer solchen Negierung ist grundsätzlich entgegenzuhalten, dass die Pönalisierung der Gewalt wenigstens die politischen Kosten der Gewaltanwendung erhöhen kann.
Historische Tabus verhindern objektive Einschätzung
In der deutschen Debatte ist der analytisch-juristische Blick auf die Sach-und Rechtslage im Gazakrieg von historischen Tabus umstellt. Es ist mitnichten nicht nur das linksliberale, politisch-korrekte Milieu, sondern auch konservative Kreise, welche das Vorgehen des israelischen Militärs pauschal mit dem Selbstverteidigungsrecht Israels rechtfertigen. Neben der typisch bundesrepublikanischen Vergangenheitsbewältigung mag hierbei auch die Bewunderung für den selbstbewussten National-und Militärstaat Israel eine Rolle spielen, der einerseits eine liberale westliche Demokratie ist, andererseits aber nie aufgehört hat, ein Rasse-, Raub-, und Eroberungsstaat (Ernst Nolte) zu sein. Diese Politik wird begleitet durch einen Tenor der „Verteidigungsaggressivität“, der ostentativ die eigene souveräne Staatlichkeit und das eigene Selbstverteidigungsrecht betont.
Inwieweit diese stete Argumentationslinie juristisch substantiiert ist, wird im Folgebeitrag (Teil 2) einer kritischen Würdigung unterzogen werden.
Beitragsbild / Symbolbild: Syro; Bild oben: lev radin / alle Shutterstock.com
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[…] Es handelt sich um den zweiten Teil des Beitrages. Den ersten Teil finden Sie hier! […]