von Achim Baumann

Sicherheitsbehörden haben nicht immer einen guten Leumund. Insbesondere ihre Vertrauensleute (V-Männer), im Volksmund „Spitzel“ genannt, stehen regelmäßig in der Kritik. Was V-Männer schon alles im Auftrag von Behörden oder im Übereifer selbst initiiert haben, reicht lange zurück. Bereits bei den Hakenkreuzsprühereien in den 1950er Jahren, die zur Gründung des Verfassungsschutzes führten, waren Personen beteiligt, die zu Sicherheitsbehörden in einem merkwürdigen Abhängigkeitsverhältnis standen. Die Umstände des 1978 gesprengten Celler Lochs sind zumindest auch für die interessierte Öffentlichkeit aktenkundig und die zahlreichen V-Männer in Neonazikreisen der 1990er Jahre lassen vermuten, dass so manche Gruppe ohne gelenkte V-Männer gar nicht existiert hätte.

Die Gruppe S.
Ähnliches könnte man vermuten, wenn man dieser Tage den Prozess um die Gruppe S. in Stuttgart verfolgt. Nach außen wird der Eindruck transportiert, eine gerade einmal zwölf Personen umfassende Gruppe habe sich anfänglich über das Internet zusammengefunden und über konspirative Chats Gewalttaten gegen Flüchtlinge und Muslime geplant, nachdem man sich zwar persönlich nicht kannte, aber Gemeinsamkeiten bei der Bewertung der aktuellen gesellschaftlichen Gegebenheiten fand. Was bei anderen Themen in Chatgruppen als „in Rage reden“ gewertet werden würde, wurde schnell zum Vorwurf des Terrorismus. So tagt bereits seit dem 13. April vergangenen Jahres das Oberlandesgericht Stuttgart und geht dem Vorwurf nach, die Gruppe habe „bürgerkriegsähnliche Zustände“ hervorrufen wollen. Elf mutmaßliche Mitglieder der Gruppe S. sind angeklagt, Mitglieder einer terroristischen Vereinigung zu sein. Einem weiteren wird vorgeworfen, diese unterstützt zu haben. Als Indiz werten die Behörden Funde von Zeitschriften und Büchern rechter oder rechtsextremer Herkunft, Chatverläufe, aber auch allerlei zulassungsfreie, aber zum Teil auch zulassungsnötige Waffen und waffenähnliche Gegenstände – und natürlich Aussagen, die zum Teil glaubwürdig erscheinen oder häufig eben auch nicht. Mit anderen Worten: Man hat eine Gruppe, der man den geplanten Umsturz der Bundesrepublik vorwerfen kann. Was will man mehr, um zu dokumentieren, dass die wirkliche Gefahr für unseren Staat von Rechts ausgeht? Aber war die Gruppe echt – oder hat man bei ihrer Radikalisierung vielleicht sogar nachgeholfen?

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Über 100 Verhandlungstage – alleine bis heute
Nun ist es naturgemäß schwierig, den gesamten Prozessverlauf zusammenzufassen, denn so manche Ungereimtheit lässt den Vorwurf des Terrorismus in einem seltsamen Licht dastehen. In über 100 Verhandlungstagen kommt so manches zu Tage, was den Vorwurf ins Wanken bringen könnte. „Drei bis dreieinhalb Millionen Euro hat die Suche nach der Wahrheit vor dem 5. Strafsenat des OLG seit April 2021 gekostet, sind sich Verteidiger sicher. Es ist eine schwierige, komplexe Suche, auf der fünf Richterinnen und Richter, 24 Verteidiger, mal zwei, mal drei Staatsanwältinnen sind. Hinzu kommen ein Psychiater als Sachverständiger, zwei Richter, die einspringen, sollte einer der amtierenden das Verfahren gesundheitlich nicht mehr fortsetzen können“, finden beispielsweise die Stuttgarter Nachrichten daher ungewohnt kritisch.

Der Haken: Ein Belastungszeuge, der fragwürdig ist
Hauptbelastungszeuge ist Paul U. Der Informant des LKA Ba-Wü hatte mehr als zwanzig Jahre in verschiedenen Gefängnissen, psychiatrischen Kliniken und Einrichtungen des Maßregelvollzugs verbracht. So war er unter anderem wegen räuberischer Erpressung und der Geiselnahme eines Polizisten mehrere Jahre in Haft und fiel dort als gewalttätig auf und war erst seit Anfang des Jahres 2017 wieder auf freiem Fuß. Seriöse Zeugen sehen anders aus! Und so fragt sich selbst der Spiegel, wie glaubwürdig der Belastungszeuge ist, der sich dem LKA Baden-Württemberg andiente und regelmäßig über die angeblich terroristische Gruppe „auspackte“. So schreibt der Spiegel weiter: „Bei den aufgezeichneten Vernehmungen wirkt U. an manchen Stellen fast von einem sogenannten Belastungseifer getrieben.“ Es zeigt sich wieder einmal, dass die Behörden fast nur auf Personen setzen, die als durchaus fragwürdig eingeschätzt werden können. Mittlerweile steht auch der Verdacht nahe, der Kronzeuge habe als „Einpeitscher“ innerhalb der Gruppe gewirkt, so ein anderer Zeuge. Und er selbst hat bereits zugegeben, Falschaussagen getätigt zu haben. Könnte der Prozess zum Rohrkrepierer werden und ein weiteres Beispiel dafür sein, dass das System der V-Männer einfach ungeeignet ist? Letztlich fragt man sich, wann der Prozess endlich platzt…

Ausgesuchte Verweise:

Videos mit Stellungnahmen des beteiligten Rechtsanwaltes Dubravko Mandic finden sich hier

Zeitungsartikel der Stuttgarter Nachrichten:

Der Kronbeschuldigte vom 17.11.2022

Gruppe S.: Haftbefehl für den Kronzeugen gefordert vom 15.07.2022

Prozess gegen mutmaßliche Rechtsextreme verläuft nur zäh vom 11.05.2021

Widerspruch des vermeintlichen Terrorchefs vom 03.12.2021

Verteidiger: Polizei ermittelte schlampig gegen Gruppe S. vom 20.09.2021

Verfahren gegen mutmaßliche Terrorgruppe S. wird fortgesetzt vom 06.09.2021

Anwälte beantragen Aussetzung des Verfahrens vom 27.04.2021

Anwälte zweifeln an Glaubwürdigkeit des Kronzeugen vom 14.04.2021

Durchsuchungen bei der Gruppe S. vom 13.04.2021

Elf Männer als mutmaßliche Mitglieder in Stuttgart vor Gericht vom 13.11.2020

 

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