von Spervogel
Russische Soldaten, die für den Krieg gegen die Ukraine eingezogen wurden, erhalten nach der Information der russischen Nachrichtenseite „Oskol. tv“ ein Handbuch von 63 Seiten mit dem Titel „Ich lebe, ich kämpfe, ich siege, “ das auf der Internetseite des russischen Verteidigungsministeriums heruntergeladen werden kann. Das Handbuch ist eine bunte Mischung aus praktischen Ratschlägen und Propaganda und ermöglicht einen Einblick in die russische Interpretation dieses Angriffskrieges gegen die Ukraine.
Die Ukraine retten
In der Ukraine verteidigen wir Russland, erfahren die Soldaten und es wird behauptet: „Die Ukraine als Staat gibt es nicht, es ist das Gebiet der ehemaligen UDSSR, das vorübergehend von einer Terrorbande besetzt ist. Die gesamte Macht dort ist in den Händen von Bürgern aus Israel, den USA und Großbritannien konzentriert, die einen Völkermord an der einheimischen Bevölkerung organisiert haben und in den Jahren der ‚Nicht-Abhängigkeit‘ 20 Millionen Menschen ‚reduziert‘ haben. Um zu überleben, arbeiten die Menschen auf europäischen Plantagen, ähnlich wie die Schwarzen in den USA, für einen Lohn von wenigen Cent. Die Bordelle in Europa sind voll mit jungen Ukrainerinnen. Männer werden gezwungen, gegen Russland zu kämpfen. Die USA und Europa wollen diesen Krieg bis zum letzten Ukrainer führen. Sie wollen keine Menschen. Sie wollen Territorium und Ressourcen. Dies ist die gleiche Zukunft, die sie für uns vorbereitet haben. Indem wir in der Ukraine kämpfen, schützen wir also Russland und retten die Ukraine.
Propaganda
Wie bei aller Propaganda ist hier eine Mischung aus Lügen und mehr oder weniger Zutreffendem zusammengerührt. Die Ukrainer haben sich in einer freien Abstimmung für die Unabhängigkeit ihres Landes entschieden. Selbst auf der Krim stimmten 54 Prozent für den Verbleib in der Ukraine. In der Tat arbeiten viele Ukrainer in Polen und in anderen europäischen Ländern, weil sie dort mehr verdienen als in der Ukraine, wo der Durchschnittsverdienst Anfang 2022 bei 502 Euro lag. Natürlich verdienen sie nicht „wenige Cent“, sondern das Drei- bis Vierfache wie in der Ukraine. Übrigens kamen in den sechziger Jahren viele Süditaliener und Türken nach Deutschland, weil sie dort mehr als in ihren Heimatländern verdienten. In den Bordellen prostituieren sich in der Tat viele Ukrainerinnen, die unter falschen Versprechungen dort landen. Im Gegensatz zu den russischen Soldaten sind die ukrainischen hoch motiviert und kämpfen in der Regel freiwillig gegen die Invasoren. Die Ukrainer verteidigen ihre Freiheit und Unabhängigkeit, aber auch die Freiheit und Unabhängigkeit anderer europäischer Staaten. Sie führen ihren eigenen Krieg und keinen Stellvertreterkrieg für die USA. Selbstverständlich verfolgen die USA wie immer ihre eigenen Interessen, und die sind in diesem Fall die Schwächung Russlands und seine Isolierung von Europa. Da die Ukraine nie vorhatte, Russland anzugreifen, was auch für die NATO zutrifft, muss sich Russland nicht durch einen Angriffskrieg gegen die Ukraine schützen, und Russland rettet die Ukraine nicht, sondern zerstört sie.
„Besondere militärische Aktion“ als Großer Vaterländischer Krieg 2.0
Den russischen Soldaten wird weisgemacht, dass die „besondere militärische Operation“, wie der Überfall auf die Ukraine offiziell genannt wird – erstaunlicherweise wird in dem Handbuch zugestanden, dass es ein echter Krieg ist -, die Fortsetzung des Großen Vaterländischen Kriegs von 1941-1945 sei. „Sehen sie sich nur die Liste der Länder an, die Sanktionen gegen uns angekündigt haben und das ukrainische Regime unterstützen – Deutschland, Polen, die Tschechische Republik, Kroatien, Norwegen, Dänemark, Japan, Italien. Sie alle haben gegen uns gekämpft. Heute rächen sie sich in der Ukraine für unseren großen Sieg.“ Polen, die Tschechische Republik, Norwegen, Dänemark haben gegen Russland gekämpft? Sie waren von deutschen Truppen besetzt. Primitive Geschichtsklitterung! „Dass Russland und wir, seine Soldaten, heute auf der Seite des Guten kämpfen, zeigt die Tatsache, dass Tausende von Russen aller Nationalitäten und verschiedener Glaubensrichtungen ohne Zwang, durch den Ruf des Gewissens, in die Reihe der Soldaten eingetreten sind, um das Böse zu bekämpfen. Das hat es in der Geschichte nur einmal gegeben – im Großen Vaterländischen Krieg, als unsere Großväter gegen den grassierenden Faschismus kämpften.“ Der „Ruf des Gewissens“ kann nicht sehr laut gewesen sein, denn Hunderttausende junge Russen verließen aktuell fluchtartig das Land, um der Einziehung zu entgehen. Auch in der Ukraine muss der Faschismus wieder besiegt werden. „Eines Tages, nach der Entnazifizierung, werden sie (die Ukrainer) wieder Russen sein, aber bis dahin sind sie der Feind. Grausam und heimtückisch. Das heißt, wir müssen sie so lange schlagen, bis sie die Hände hochnehmen, ohne sich zu entspannen, bis wir gewinnen.“ Den Ukrainern droht also die Zwangsrussifizierung. Bis das erreicht ist, gilt der böse Grundsatz: „Willst du nicht mein Bruder sein, schlag‘ ich dir den Schädel ein.“
Warnung vor freiwilliger Gefangenschaft
Viele russische Soldaten, die sich nicht durch die Flucht vor dem Einsatz an der Front retten konnten, versuchen nun, in Gefangenschaft zu kommen. Sie werden eindringlich davor gewarnt. Die freiwillige Kapitulation sei eine Frage der Psychiatrie. Die Ukrainer würden die Gefangenen mit brutaler Grausamkeit behandeln. „Einen wehrlosen Gefangenen zu demütigen, zu foltern, zu kastrieren oder zu töten, ist für unsere Feinde ein Akt der Selbstbehauptung. Aber für uns ist es eine unannehmbare Travestie. Wir foltern keine Gefangenen. Einen ausgelieferten Feind am Leben zu lassen, ist eine gottgefällige und rechtlich richtige Sache.“ Aus russischer Gefangenschaft befreite Ukrainer und Zivilisten aus befreiten Gebieten berichteten allerdings von Folter, Vergewaltigung, Plünderung, sinnloser Zerstörung und Mord.
Was benötigt der Soldat für den Krieg?
Den Eingezogenen wird eine Liste vorgelegt, was sie alles mitbringen müssen. Es ist allerdings eine Lüge, dass sie alles, vom Helm bis zur kugelsicheren Weste, selbst kaufen müssen. Mitzubringen sind unter anderem zwei bis drei Packungen Heftpflaster, Klappmesser, drei bis vier Paar Socken, zwei bis drei Sätze Unterwäsche. Und auch drei bis vier Paar Arbeitshandschuhe, Schnürsenkel, Nahrung und Wasser für einen Tag. Allerdings erschien in Russland eine Reklame, in der dem zukünftigen Krieger Ausrüstungsgegenstände angeboten wurde, damit er in den Krieg ziehen könne. „Wieviel kostet es, in den Krieg zu ziehen? Umgerechnet über 1000 Euro.
Verhaltensregeln
Es werden im thematisierten Handbuch auch Verhaltensregeln für einen Artillerieangriff gegeben. Diese Angriffe seien nicht so schlimm, wie immer behauptet werde. Es gebe Anzeichen für einen bevorstehenden Angriff, so dass man sich darauf einrichten könne. Auch sei eine Verhinderung eines Artillerieangriffs schwierig, aber möglich. Mobiltelefone seien auf keinen Fall zu nutzen, sie verrieten dem Feind die eigene Stellung. Fotos in sozialen Medien seien zu unterlassen, sie seien eine Fundgrube für Spione. Auch ganz praktische Tipps werden gegeben. Wie man einen Wasserfilter aus einer Plastikflasche herstellen könne, wie man ein rauchloses Lagerfeuer mache, wie man sich vor Läusen schütze. Aufschlussreich ist auch die Erwähnung, dass bis zu 40 Prozent der Verluste nicht auf Kampfhandlungen zurückzuführen seien, sondern durch unsachgemäße Sicherheitsmaßnahmen beim Umgang mit Waffen, Beschuss durch eigene Truppen aufgrund mangelnder Interaktion mit den Nachbarn, Transportunfälle, Schikanen, Krankheiten, Vergiftungen durch Alkoholsurrogate. Ob diese Ursachen wirklich 40 Prozente der Verluste bedingen, lässt sich nicht nachprüfen. Sicher aber sind sie ein Hinweis auf die schlechte Organisation und Moral der russischen Truppen. Somit bleibt ein Handbuch, das tief blicken lässt, oder?
Beitragsbild /Symbolbild: KLngvarr / Shutterstock.com
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