von Der Schattenmacher

Am 30. September 2022 hat der russische Präsident Wladimir Putin, aus Sicht seiner eigenen Nation, die Annexion vierer vormals ukrainischer Landesteile finalisiert und im Zuge dessen eine vielbeachtete Rede gehalten, gerichtet an die russische und weltweite Öffentlichkeit. Im vorliegenden Artikel soll diese Rede eingeordnet und kommentiert werden, vor allem in Bezug auf jene Aspekte, welche sich mit dem politischen Verhältnis Russlands zu den Staaten des Westens auseinandersetzen. Gerade die grundlegendsten Fragestellungen, wie im 21. Jahrhundert Politik zu betreiben sei, stehen dabei im Zentrum.

Der erste Teil der Ansprache gibt die russische Motivation und Rechtfertigung der Annexion wieder. Mehrere Punkte werden angeführt: Zum einen stellt Putin dar, dass die Grenzziehung zwischen dem russischen Kernland und der Ukraine im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion willkürlich und unter Missachtung der Wünsche der allgemeinen Bevölkerung geschehen sei. Des Weiteren führt er aus, welche verbindende Geschichte zwischen den russischen Landen und den umstrittenen Gebieten bestehe, welche Schlachten die Vorväter dort gemeinsam gegen äußere Feinde geschlagen hätten. Schließlich betont er das Ergebnis der in der Region abgehaltenen Referenden, in welchen sich die ansässigen Menschen überdeutlich für eine Eingliederung in die russische Nation ausgesprochen haben. Zuletzt verspricht er Unterstützung bei einem raschen Wiederaufbau.

In dieser Begutachtung soll zunächst vor allem das Argument der Volkssouveränität durch Referenden einer Kritik unterzogen werden. Alle anderen Punkte sind generische Argumentationen, wie man sie von jedem anderen Politiker aller beteiligten Kriegsparteien unter entsprechendem Vorzeichen erwarten würde. Hätte der ukrainische Präsident Selenskyj eine ähnliche Rede gehalten, hätte er wohl auf das historisch verbürgte ukrainische Unabhängigkeitsstreben im Zuge der sowjetischen Kollektivierungen und die brutale Ausbeutung unter Josef Stalin verwiesen, Wiederaufbauhilfe von Seiten der EU und der Vereinigten Staaten in Aussicht gestellt und das freundschaftliche Verhältnis zum Westen betont. Beides kann als wahr gelesen werden. Es kommt einzig auf die Perspektive, also die Gewichtung der einzelnen Faktoren aus dem eigenen Standpunkt heraus an. Solche Argumente bleiben ohne Überzeugungskraft in den Kreisen jener, die bereits gegenteilig überzeugt sind und dienen hauptsächlich der Selbstversicherung des eigenen Lagers, sowie dessen Unterstützer in den umstrittenen Gebieten.

Ein Referendum trägt in dieser Hinsicht, zumindest vordergründig, mehr Gewicht. Die Stimme des Volkes ist nicht einfach nur ein willkürlich zusammengeklaubtes Bündel historischer Verweise und vager Versprechungen, sondern ein messbarer Gegenwartsparameter. Tatsächlich sind die Ergebnisse der Volksbefragungen in den vier umkämpften Gebieten enorm einseitig zu Gunsten Russlands ausgefallen. In Luhansk und Donesk wurden 98% und 99 Prozent Zustimmung zur Annexion regestriert, in Saporischschja und Cherson 93 Prozent und 87 Prozent [Siehe hier]. Natürlich hätten die Staaten des Westens die Legitimität dieser Referenden auch dann noch negiert, wären deren Zahlen nicht so überwältigend einseitig ausgefallen. Zum einen, so ihre Darlegung, widerspreche die vorherige kriegerische Aneignung der Gebiete dem Grundgedanken einer Volksbefragung, zum anderen lasse es die konkrete Durchführung der Abstimmungen an der gebotenen Neutralität mangeln. So soll zum Beispiel das Wahlgeheimnis allgemein nicht beachtet worden und Wahlbeamte, von bewaffneten Soldaten begleitet, von Haus zu Haus marschiert sein, um ein bejahendes Votum sicherzustellen.

Die grundlegende Frage, welche sich dem Beobachter hier aufdrängt, ist folglich jene, nach der rechtmäßigen Autorität, welche überhaupt über hinreichende Neutralität entscheiden kann. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker wird sowohl von Putin in seiner Rede als auch von den Staaten des Westens hochgehalten, allerdings ist es offenkundig fast unmöglich, zwischen den Konfliktparteien eine Einigung zu finden, wie besagte Selbstbestimmung festzustellen sei. Das Dilemma beginnt bereits bei der Frage, wer die Wahl überhaupt durchführen solle. Elon Musk hat in einem Tweet zum Thema, welcher ebenso wie Putins Rede für Furore sorgte, vorgeschlagen, die UN könne das Referendum unter ihrer Aufsicht wiederholen [Siehe hier]. Die UN allerdings wird zu 3 Prozent finanziert von Russland und zu über 50 Prozent von den Vereinigten Staaten und seinen engsten Verbündeten [siehe hier]. Wie groß wäre die Bereitschaft des Westens, ein UN-Referendum unter umgedrehten Vorzeichen zuzulassen? Darüber hinaus bestünden ohne Zweifel weitere Spannungspunkte: Wie viel Zeit und Zugang wird den Kriegsparteien gewährt, Wahlkampf zu veranstalten? Wer dürfte letztlich abstimmen – jene Menschen, die derzeit die Ostukraine bevölkern, oder jene, die es vor Kriegsausbruch getan haben? – Und wer überwachte die rechtmäßige Unterscheidung? Es soll an dieser Stelle nicht behauptet werden, alle Volksbefragungen seien von vornherein in gleichem Maße zweifelhaft; die durchschnittliche deutsche Landtagswahl (außerhalb Berlins) verdient es sicherlich, als ausgewogener angesehen zu werden, als ihr Gegenstück in einem Land des Ostblocks im Jahre 1980. Aber selbst hierzulande wird immer stärkere Kritik laut an einzelnen Aspekten der Wahlprozedur, zwar nicht so sehr an der Durchführung selbst, sicherlich aber in Bezug auf die mediale Beeinflussung solcher Wahlen im Vorfeld ihrer Austragung. Das zum Beispiel die AfD im Verhältnis zu ihrem Bundes-Wahlergebnis sehr stark unterrepräsentiert ist in den öffentlich rechtlichen Talkshows des Landes, mag einem außenstehenden Beobachter bereits als eindeutiger Eingriff in die Neutralität des demokratischen Prozesses gelten und die Gültigkeit der Wahl in Frage stellen.

Free Wind 2014 /Shutterstock.com

Die Menschen des 16. Jahrhunderts hatten sicherlich weniger Probleme damit, die Legitimität einer Regentschaft zu identifizieren. Da in damaliger Zeit die Mittel zur Erlangung von Herrschaft viel weitreichender mit den Mitteln zur Feststellung ihrer Legitimität übereinstimmten, bestand weniger Raum für Zweifel und endlose Anfechtungen. Die Schlagkraft der Streitmacht und die physische Kontrolle der Siedlungen eines Territoriums waren und sind einfacher und unzweideutiger zu messen als die ‘wahre’ Meinung des Volkes. Die hier vorgebrachte Argumentation soll zwar nicht zum Ziel haben, das Selbstbestimmungsrecht der Völker für gänzlich irrelevant zu erklären, dies wäre im Zeitalter des Nationalismus, in welchem wir immer noch leben, ein Schlag wider die Realität, es soll vielmehr auf die Grenzen der Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit dieses Prinzips in einem ernsten Konflikt hingewiesen werden. Das Selbstbestimmungsstreben der Völker ist ein realer Machtfaktor, doch immer wieder aufs neue scheitert die Aufrechterhaltung dieses Grundsatzes – jenseits der Theorie – an der Manipulierbarkeit seiner Durch- und Umsetzung. Ein geradlinigerer Putin hätte in seiner Rede dementsprechend zu dem Urteil kommen müssen, dass Krieg geführt wird für die internationalen russischen Sicherheitsinteressen, die durch eine Annäherung der Ukraine an den Westen aus russischer Sicht in Gefahr geraten sind. Weitergehend hätte man feststellen können, dass zum Beispiel in den bestzten Gebieten Luhansk und Donetsk etwa ein Drittel der Menschen ethnische Russen sind und sogar mehr als zwei Drittel russisch zur Muttersprache haben [siehe hier] sowie auf prorussische Sympathien in diesen Gebieten bei Abstimmungen vor Ausbruch des Krieges verweisen und dann auf dieser Grundlage die Annektion als exektuive Tatsache verkünden können, die keiner weiteren Abstimmung bedarf. Dies hätte zwar mit zahlreichen modernen Sensibilitäten gebrochen, wäre der Wahrheit aber näher gekommen als der jetzige Rechtfertigungsstand und angesichts der Tatsache, dass nirgendwo in den Kreisen westlicher Eliten Putins Erklärung die geringste inhaltliche Legitimität zugestanden wird, hätte es auch dahingehend kaum einen Unterschied bedeutet für das Ansehen Russlands in der Welt. Eine derartige Begründung hätte im Gegensatz zur Existierenden tatsächlich eine Zäsur und Zeitenwende markiert, zum besseren oder schlechteren – das sei dem Leser zur Bewertung überlassen. Auf die bisherige Weise aber spielt auch der russische Präsident jenes Spiel mit, welches er im zweiten Teil seiner Rede dem Westen zum Vorwurf macht.

Die übrige Rede steigt dann nämlich über den Rahmen des russisch-ukrainischen Konfliktes hinaus und übt eine Generalkritik an der westlichen Politik, vor allem am unipolaren Außenpolitikmodell der Vereinigten Staaten. In diesem Abschnitt der Rede gibt der russische Präsident relativ genau jene politische Theorie wieder, die im Westen von Vertretern der neorealistischen Schule wie John Mearsheimer gelehrt und vertreten wird. Kurz zusammengefasst stellt Putin dar, dass der westliche Staatenbund unter unangefochtener Führung der Vereinigten Staaten bei Vorgabe demokratischer Idealismen sich die Ressourcen und Einflusssphären anderer Staaten zu eigen mache. Was der Westen als Liberalisierung und Demokratisierung verkaufe (und woran vor allem seine Eliten tatsächlich glauben mögen), das gestalte sich aus Sicht anderer Völker als ein koloniales Expansions- und Herrschaftsprojekt. Putin führt dann eine ganze Reihe von historischen Beispielen des 20. und 21. Jahrhunderts an, die seinen Standpunkt belegen sollen, etwa die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki, die Bombardierung Dresdens, den Vietnamkrieg, die fortgesetzte militärische Präsenz der USA in Japan, Deutschland und Südkorea oder die jüngsten Sprengungen der Pipelines Nordstream 1 und 2, für welche der russische Präsident ebenfalls die Regierung der Vereinigten Staaten verantwortlich macht.

Darüber hinaus stellt Putin einen tiefer werdenden Graben fest, der zwischen dem von ihm angestrebten russischen Kulturideal und der Lebensrealität in den westlichen Staaten sich aufzutun beginnt. So findet er sehr deutliche Worte, wenn er beispielsweise im Kontext des Genderweltbildes von einer Ideologie spricht, die auf das Aussterben der Menschheit hinausläuft. Seine Rede ist in diesem Abschnitt deutlich von impliziten Offerten und Kooperationsangeboten durchzogen, welche Putin an die Gegner dieser westlich-liberalen Unipolarität richtet, auch und gerade an Gegner in besagten Staaten selbst.

Es ist offenkundig und bedarf keiner weitreichenden Erklärung, dass die Vorbehalte, welche Putin in seiner Rede anspricht, in den Staaten des Westens vor allem von der in Opposition stehenden politischen Rechten geteilt werden. Diese Fraktion muss also als der hauptsächliche Adressat jener Avancen verstanden werden. Im Lichte dieser Einordnung erscheint die Gesamtheit von Putins Ansprache dann aber wenig konsistent, denn neben einer Kritik an der Genderideologie und dem ‘satanischen’ Charakter westlicher Eliten referenziert der Präsident deutlich und mehrmals einen antikolonialen Narrativ, der in Europa und Nordamerika eher von der anderen Seite des politischen Spektrums vertreten wird, von den extrem progressiven Bestandteilen linker Parteien. Wenn man nicht davon ausgeht, dass dieser antikoloniale Narrativ nur als Schlagwort die eigene Bevölkerung in Opposition zu den Vereinigten Staaten ansprechen soll, dann liegt die Schlussfolgerung nahe, dass Putin an dieser Stelle versucht, die Macht des derzeitigen westlichen Mainstreams von zwei sich gegenseitig ausschließenden Seiten gleichzeitig in die Zange zu nehmen. Zum einen bedient er rechte Narrative, zum anderen greift er jene Bewegungen auf, die derzeit als Teil der westlichen Staaten deren Legitimität von innen heraus in Frage stellen. Dies mag man als klugen und weitsichtigen Machiavellismus betrachten, denn mit einiger Wahrscheinlichkeit wird eine dieser beiden politischen Strömungen in Zukunft den bisherigen Nachkriegskonsens ablösen, allerdings zeigt Putins Rede damit auch deutlich auf, dass es der russische Präsident im Zweifel tatsächlich seinem eigenen Land und seinen eigenen Belangen das Primat einräumt und er womöglich keinen stabilen weltanschaulichen Partner über die Logik harter Macht- und Interessenpolitik hinaus darstellt. Ein überschäumendes Maß an Enthusiasmus verböte sich nach dieser Analyse also für alle Bürger des Westens, gleich auf welcher Seite des politischen Spektrum sie nun zu verorten seien.

Fly Of Swallow Studio / Shutterstock.com

Zusammenfassend ist festzustellen, dass Wladimir Putin in seiner Rede weder den agitatorischen Eifer noch die persönlichen Ambitionen erkennen lässt, als Begründer eines neuen Großrusslands in die Geschichte einzugehen. Sollten diese Motive in ihm vorherrschen, dann sicherlich im Geheimen. Ebenso wertet er in seiner Ansprache kein Volk und keinen Staat pauschal ab und beschränkt den schärfsten Kern seiner Kritik in verhältnismäßig nüchterner und argumentativer Manier auf die westlichen Eliten, denen er das Modell einer von ihm angestrebten multipolaren Weltordnung als Gegenentwurf zur amerikanischen Unipolarität entgegenhält. Allerdings verpasst es der Präsident der russischen Nation eine tatsächliche Neuordnung der Welt und damit auch eine Neuordnung der politischen Werte anzuführen, in dem er an zu zahlreichen Stellen wieder in Plattitüden und Scheinwahrheiten zurückfällt, welche er, nicht ohne Berechtigung, im Westen als vorherrschend ansieht. Eine der letzten Sätze seiner Rede soll hier wörtlich wiedergegeben werden. So heißt es dort: ‘Unsere Werte sind Menschlichkeit, Gnade und Mitgefühl.’ – Und auch wenn dem Präsidenten nicht unterstellt werden soll, dass er eine Welt oder Nation anstrebe, die frei sei von diesen Idealen, so erscheint diese Selbstbeschreibung im Angesicht der realen Kriegstoten in der Ukraine sowie der in jedem kriegerischen Konflikt unvermeidlich auftretenden Grausamkeiten, doch eben wie jene scheinheilige Verklärung, die zuvor dem Westen zur Last gelegt wurde.

Zu einer lebenswerten Zukunft der Nationen gehört sicherlich ein gewisses Maß an Mitgefühl und Verständigung unter den Völkern, aber zu ihrer realistischen Gestaltung bedarf es größerer Ehrlichkeit und eines tatsächlichen Bruches mit dem alten Schein. Sollten die Politiker in Ost und West damit fortfahren, bewaffneten Konflikt und eiserne Interessenpolitik in ihren Narrativen zumindest implizit als unvereinbar darzustellen mit allen Werten des Guten und Menschlichen, dann wird die Folge ein weitere Delegitimierung der gesamten moralischen Basis ihrer jeweiligen Weltbilder sein, denn unter Druck werden sie nicht darauf verzichten können, Konflikte auszutragen und ihre Interessen zu wahren.

 

Treten Sie dem Freiburger Standard bei

Wir senden keinen Spam! Erfahren Sie mehr in unserer Datenschutzerklärung.