von Der Schattenmacher
Wie ein Gespenst geht im Herzen des modernen Europas wieder der Gedanke an politische Instabilität, an Massenproteste und die Anarchie der Straße umher. Die warnenden Kommentare seitens hoher Regierungsmitglieder und Beamten der Sicherheitsbehörden sind eindeutig: Der Wutwinter steht bevor, oder präziser, er könnte bevor stehen.
An den Börsen explodierende Gas- und Strompreise sowie erste Vorboten eines ernstlichen politischen Wiedererwachens in Form großer Coronademonstrationen im vergangenen Jahr sowie die hitzigen niederländischen Bauernproteste in diesem, haben ein lange nicht gekanntes Phänomen zurück in das Bewusstsein des politisch interessierten Menschen gerückt: Das Volk als eigenständige Willensinstanz, jenseits der abgeschotteten parlamentarischen Diskussion und der zumeist sehr einseitig veröffentlichten Meinung.
Ob es tatsächlich soweit kommen wird, ob der Wutwinter zur Realität wird oder nicht, das soll in diesem Text nicht das Thema sein, denn solcherlei ist unmöglich vorherzusagen. Zu viele Parameter sind dafür noch unbekannt: Wie streng dieser Winter ausfallen wird etwa, und wie wahrscheinlich eine mögliche Einigung der westlichen Staaten mit Russland als größtem Gasexporteur der Welt ist, bleibt dem Beobachter am Boden zunächst verborgen. Anstatt sich also in vagen Spekulationen über die Wahrscheinlichkeit des Volksaufstandes zu ergehen, soll an dieser Stelle vielmehr die nüchterne Frage diskutiert werden, welche Erfolgsaussichten er denn hätte, käme es tatsächlich soweit.
Nehmen wir in provokanter Weise an, Millionen gingen auf die Straße um ihren Unmut kund zu tun und die in Macht stehende Regierung antwortete auf die lautstark vorgebrachten Forderungen schlicht mit einem ’Nein’. Was dann? Natürlich ist dies eine vereinfachte Darstellung, in der Realität äußern sich Politiker niemals in dieser simplen, geradlinigen Manier. Sie sprechen von Notlagen und Solidarität, von Putin’s Krieg und Zusammenhalt, vom Konsens der Experten und Querdenkern, doch allzu oft ist das Ergebnis ihrer Worte das gleiche: ’Nein’.
Eine in heutiger Zeit beinahe vergessene politische Weisheit besagt, dass der am zu Stande kommen von Ergebnissen interessierte Mensch es um jeden Preis vermeiden muss, der Kindergartenpolitik zu verfallen. Kindergartenpolitik betreibt, wer die politischen Mittel nicht in kritischer Distanz als Mittel zu einem Ziel begreift, sondern aus einer idealistischen Perspektive heraus an die trügerische Magie der Mittel selbst zu glauben beginnt. Wer auf die Straße marschiert und demonstriert, aber nach ausbleibender Verbesserung der Lage wieder nach Hause geht und sich am Ende seiner demokratischen Weisheit angelangt sieht, der ist den Mitteln mehr verhaftet als den Zielen. Viele Jahrzehnte politischer Passivität haben in Deutschland und in der ganzen westlichen Welt dazu geführt, dass die meisten Bürger letztlich genau in dieser Art handeln und denken. Natürlich geben auch die Menschen auf der Straße diese Tatsache nur ungern zu. Sie flüchten sich, ähnlich dem Phrasen dreschenden Politiker, in vage Durchhalteparolen und stillen Selbstbetrug, anstatt nüchtern die Bilanz ihrer Mühen zu betrachten. Hunderttausende von Menschen haben im letzten Jahr gegen die Coronamaßnahmen der Bundesregierung demonstriert. In diesem Jahr stehen neue Maßnahmen wieder zur Diskussion.
Die bittere Wahrheit ist, das Demonstrationen ein sehr schwaches politisches Instrument darstellen. Die Gründe dafür sind einfach zu verstehen: Den Durchführenden kostet es etwas, einen Protest abzuhalten – wenigstens Zeit und Anfahrtskosten. Politiker im Reichstag und Journalisten in ihren Redaktionsbüros auf der anderen Seite werden für ihre Arbeit bezahlt, sie werden mit ihrer politischen Arbeit reicher anstatt ärmer und besitzen daher ein viel größeres Maß an Ausdauer. Noch gravierender allerdings ist die Tatsache, dass auf der Straße skandierende Menschen den Politikern in Verantwortung nichts Reales anhaben können. Letztere sind physisch geschützt durch eine Polizei, deren Gehälter sie auszahlen und weder ihr eigenes Einkommen noch jenes der Polizisten wird geschmälert durch das Skandieren von Parolen. Ebenso folgt kein unmittelbarer juristischer Druck aus einer abgehaltenen Demonstration. Nicht einmal die Wahlprognose ändert sich notwendigerweise als Folge eines Protests, so wie es im letzten Herbst und Winter durch die Coronamärsche auch keine fundamentale Verschiebung des Parteienspektrums gegeben hat.
Trotz dieser ernüchternden Erfahrungen erfreuen sich Demonstrationen als politisches Mittel großer Verbreitung in diesem Land. Zum einen liegt dies begründet im Mangel an Alternativen. Der Protest stellt die einzige politische Partizipationsform des einfachen Bürgers dar, die kurzfristig durchgeführt und ohne übergroßen Aufwand betrieben werden kann. Zum anderen geht sie zurück auf eine emotionale Fehlkalkulation. Die meisten Menschen interagieren in ihrem alltäglichen Leben fast ausschließlich mit Leuten, zu welchen sie einen emotionalen Bezug haben. Die klassischste Beziehung dieser Art ist jene zwischen Eltern und Kindern. Die Unzufriedenheit des Kindes allein ist für Eltern, die eine Verbundenheit zu ihrem Nachwuchs verspüren, Grund genug, sich den Belangen des Kindes anzunehmen. Diese Logik funktioniert nicht im modernen Politikbetrieb. Gerade weil die kulturelle Kluft zwischen Politikerkaste und Normalbürger gewachsen ist und sowieso immer existiert hat, ist es fatal, sich auch nur unbewusst der Illusion hinzugeben, Politiker würden von Unzufriedenheit auf Seiten der Bevölkerung, selbst durch deren Verzweiflung in ihren Entscheidungen weitreichend beeinflusst. Es soll hier nicht behauptet werden, dass der Politiker als Individuum nicht bewegt werden könnte von der Not einer verarmten Rentnerin, aber der Selektionsprozess der Macht zwingt ihn trotzdem dazu, nur jenen Forderungen nachzugeben, die seine Position als Politiker stärken, nicht sein Gemüt beruhigen. Handelt er anders, wird er durch Kollegen ersetzt, die diese Regeln nicht missachten.
Politiker müssen immer gezwungen werden, nie gebeten, denn jener Politiker, welcher der Bitte nachgibt und nicht dem Zwang verliert an Macht und kann seinen Posten langfristig nicht behaupten.
Solch einen Zwang aber lösen am ehesten jene Dinge aus, die hinter einer Demonstration stehen, die langfristig wirken, nicht die Demonstration selbst. Wie man letztlich zur Demokratie steht ist unerheblich, ihr ärgster Feind und ihr bester Freund müssten dennoch beide zustimmen, dass ein Abspeisen und Ruhighalten der allgemeinen Bevölkerung mit wirkungslosen politischen Mitteln nicht dem Wort ’Demokratie’ gerecht werden kann. Demokratisches Mittel ist nicht, was ein Mitglied der Regierung seinen Bürgern als akzeptable Maßnahme vorschreibt. Demokratisches Mittel ist, was effektiv die Interessen der Mehrheit durchsetzt. Aber solche Fragen werden in diesem Land für gewöhnlich nicht diskutiert. Demokratie, das bedeutet seine Politiker wählen und Demonstrieren gehen, wenn einem deren Entscheidungen missfallen. Und ginge es nach den Hoffnungen der Regierungspolitiker, so würde sich dieses Selbstverständnis ewig fortsetzen und ihnen somit einen dauerhaften und sehr breiten Handlungsfreiraum gewähren. Was also kann getan werden um das stumpfe Mittel Demonstration vielleicht ein wenig schärfer zu gestalten?
Erstens gilt der entscheidende Grundsatz: Keine Demonstration ohne politische Organisation. In Kontext dieser Zeit heißt das zumeist: Kein Protest ohne Partei. Wer als Individuum auf die Straße geht und sich keiner Dachorganisation angehörig fühlt, der kann nicht auf Erfolg hoffen, denn Forderungen müssen vertikal weiter getragen werden. Man sollte es sich immer wieder aufs Neue, wie ein Mantra einprägen, genauso wie Politiker dieses Landes durch beständige Wiederholung gewisser Glaubenssätze die Bevölkerung in einen Zustand versetzt haben, in welchem sie die Frage nach der Sinnhaftigkeit und Effektivität eines demokratischen Mittels für antidemokratisch halten: Politiker brauchen reale Anreize, etwas zu tun. Protestieren allein ist kein realer Anreiz. Ein Absinken in den Wahlumfragen und damit verbunden die Aussicht auf den Verlust des Gehaltes schon eher. Ein über lange Zeiträume wirksamer Feind ist ein viel größeres Problem als eine schnell erlahmende Protestbewegung. Wer als unabhängiger Freigeist zu einer Demonstration geht, ist kein unabhängiger Freigeist, sondern ein Mensch, der darin versagt hat, zu verstehen, wie politische Macht sich konstituiert.
Zweitens sollte eine Demonstration niemals ohne das Knüpfen von persönlichen Bekanntschaften und die Repräsentation des eignen Lagers durch die eigene Person stattfinden. Ein schwer zu messender aber wahrscheinlich dennoch sehr realer Grund, weshalb Regierungspolitiker große Demonstrationsbewegungen wie die Querdenker so vehement zu vereinzeln versuchen ist das Gewöhnungs- und Identifikationspotential, welches sie böten, würden sie in attraktiverer Manier auftreten. Die medial stattfinde Isolation dieser Bewegung funktioniert, weil der Rest der Bevölkerung nur sehr wenige Berührungspunkte mit den Ausgeschlossenen besitzt und auch nur wenige besitzen will, solange sie im persönlichen Umgang ein Bild von Chaos und Uneinigkeit darbieten.
Eine Integration in der Tiefe ist, was Politiker wirklich an einer Demonstration fürchten. All jenes, was 10 Tage oder 100 Tage nach dem Stattfinden der Demonstration noch von ihr geblieben ist, ist es Wert beachtet zu werden. Für die allermeisten Proteste dieses Landes heißt dies bisher allerdings: Beinahe überhaupt nichts.
Vor allem muss ein mündiger Bürger vollkommen seine Illusionen über die Wirksamkeit politischer Mittel verlieren und genau analysieren, was diese tatsächlich wert sind. Es muss daher bereits heute davor gewarnt werden, zu viel Enthusiasmus in einen kommenden Wutwinter zu investieren. Selbst wenn fünf Millionen Menschen auf die Straße gingen, selbst wenn es massive Auseinandersetzungen mit der Polizei gäbe, selbst wenn tatsächlich ein Reichtagssturm statt fände, am Tag danach würde der gesamte Verwaltungsapparat immer noch nach den selben Gesetzmäßigkeiten funktionieren. Es existieren strukturelle Probleme, die nicht weg demonstriert werden können. Aus diesem Grund ist auch jeder Gedanke einer Querfront aus Linkspartei und AfD, oder ähnliche Gebilde, reine Utopie. Gerade weil diese Pole in ihrer gegenseitigen Ablehnung keine Tiefenintegration über das Datum der Demonstration hinaus leisten können, werden sie keine dauerhafte Wirkung erzielen.
Die ökonomischen Verhältnisse werden sich in Zukunft womöglich für viele Bürger dieses Landes ernster gestalten. Die Reaktion darauf mag Wut sein. Die Überwindung solcher Krisen allerdings kann Wut alleine nicht bieten. Hierfür benötigt es zunächst eines Aufräumens mit still gehegten Illusionen.
Aber eine Lösung kann auch der Schattenmacher nicht aufzeigen; daher muss das private Mittel die Demonstration bzw die gezielt gesuchte gesellschaftliche Beisamnenschaft bleiben. Diese beweist den Umfang des gemeinsamen politischen Willens.
Liebe Frau Böswald, wieso gehen Sie nicht einfach wieder ins Schlafzimmer zurück, dort leisten Sie ja beste politische Arbeit und empfangen dort barfuß verheiratete Männer (Martin Pohlheim)
Ausführlicher äußert sich Schattenmacher dazu auf YouTube. Kann ich sehr empfehlen.
Ob eine Partei oder Organisation immer von Vorteil ist bezweifle ich, denn die kann bei zu großem Erfolg dann angegangen, gespalten und unterwandert werden. Beispiele dafür gibt es ja schon unzählige.
Wer demonstrieren geht, Organisation hin oder her, ist eigentlich noch nicht verzweifelt genug. Ceaușescu wurde nicht über politischen Druck und Reformen aus dem Amt gebracht. Auch eine weitgefasste Organisation kann nichts daran ändern, dass sie keine Angst haben vor Euch und daher ist gleichgültig, was ihr unternehmt…