Von Jakob Maria Mierscheid

Grenzen haben für den Rechtsstaat eine konstitutive Bedeutung. So legen sie zugleich den Geltungsraum des Rechts und der staatlichen Gewalt fest, wie sie auch das territoriale Ende der rechtlichen und politischen Herrschaftsgewalt markieren. Grenzen begründen und begrenzen insoweit die Reichweite des Rechts und der Rechtsunterworfenheit. Mit der Demarkation des Grenzübertritts ist man darüber informiert, einer anderen Rechtsordnung als der vorherigen unterworfen zu sein. Darüber hinaus regeln Grenzen das Verhältnis zu den anderen Staaten. Die eigene Grenzpolitik prägt zugleich das Verhältnis zum Pluriversum der übrigen Staatenwelt.

 Die rechtliche Bedeutung der Grenze
Instruktiv schreibt Isensee dazu:

„Die Grenzlinie, die in sich keine normativen Gebote oder Verbote enthält, hat normativen Charakter ,weil sie die Reichweite des Staatsgebiets rechtsverbindlich bestimmt und damit das Objekt des völkerrechtlichen Interventionsverbots sowie die territoriale Basis der souveränen Gleichheit als Staat unter Staatendefiniert. Innerhalb der Grenzen entfaltet sich der Territorialstaat zur Friedenseinheit kraft seines Gewaltmonopols, zur Machteinheit kraft seiner inneren Souveränität, zur Entscheidungseinheit kraft seines letzten Wortes in Sachen des Gemeinwohls.“ (Isensee, Grenzen S. 29.)

Insoweit berührt die Regelung des Grenzübertritts immer auch die grenzüberschreitenden Voraussetzungen des reinen positiven Rechts. Mit der Einführung der Freizügigkeit in der EG/EU lockerte sich das starre Regime von Grenzübertritt und Grenzkontrollen. Es wurde durchlässig für den freien Verkehr von Gütern, Waren, Dienstleistungen und sonstigen Reisenden. Die Freizügigkeit des innereuropäischen Raums ist wesentlicher Motor der europäischen Integration. Umso bemerkenswerter ist es, wenn dieses Instrument der Integration nunmehr zu einem Werkzeug der innenpolitischen (!) Repression wird. 

Einreise-und Ausreiseverweigerungen als Instrument der Repression
Bereits mit der von der Stadt Potsdam gegen den ehemaligen Obmann der Identitären und Publizisten Martin Sellner verhängten Einreisesperre begann die Staatsmacht das Aufenthaltsrecht parteipolitisch in Stellung zu bringen. Denn die Durchbrechung der europäischen Freizügigkeit ist von der ratio legis her eigentlich nur im Falle schwerer begangener oder drohender Straftaten vorgesehen. In Ansehung des hohen europarechtlichen Rechtsguts der europäischen Freizügigkeit sind die europarechtlichen Hürden hoch gesteckt. Dies musste die Ausländerbehörde der Stadt Potsdam im Eilrechtssschutzverfahren gegen Martin Sellner erfahren, als es ihr nicht gelang die Kammer des VG Potsdam von ihrer „extensiven“ Auslegung der streitentscheidenden Norm des § 6 I, II FreizügigG/EU zu überzeugen, wonach für die Einreisesperre für EU-Bürger überhaupt kein Bezug zu Straftaten notwendig sei. Letztlich scheiterte damit die Stadt Potsdam am europarechtlichen ordre-publique-Vorbehalt, der einer rein mitgliedstaatlichen Auslegung nicht zugänglich ist. Dies bedeutet, dass im Raum der europäischen Freizügigkeit nicht jeder Staat für sich die öffentliche Sicherheit und Ordnung definieren kann, sondern ein allgemeiner europarechtlicher Begriff maßgeblich ist.

Ziel Remigrations-Summit
Beim jüngst verhängten Ausreiseverbot gegen politische Aktivisten verhält es sich hingegen anders: so wollten die Adressaten der Ausreiseuntersagung auf einen sog. Remigrations-Summit nach Mailand reisen. Die acht ausreisenden Aktivisten wurden aber bereits am Münchener Flughafen an der Ausreise gehindert und nach einem siebenstündigen Gewahrsam mit einer Ausreiseuntersagung nach Italien, Österreich und der Schweiz beschwert. Fünf der durch den Verwaltungsakt belasteten Aktivisten mandatierten die Freiburger Kanzlei Mandic. Die Schriftsätze aus dem Verfahren sind hier abrufbar.

Offene und zweifelhafte Rechtsgrundlage
Rechtsgrundlage war keine europarechtliche Norm, sondern nationales Recht, nämlich §§ 7 I Nr. 1 iVm 10 PassG.

(1) Der Pass ist zu versagen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme begründen, dass der Passbewerber

1. die innere oder äußere Sicherheit oder sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährdet

Die Regelung sieht vor, dass die Ausreise bei Gefährdung innerer oder äußerer Sicherheit oder sonstiger erheblicher Belange der Bundesrepublik versagt werden kann. Während die innere und äußere Sicherheit durch den relationalen Gefahrenbegriff des Öffentlichen Rechts (Je größer die Gefahr und das betroffene Rechtsgut, desto geringer sind die Anforderungen an den wahrscheinlichen Eintritt) ist der Auffangtatbestand der sonstigen erheblichen Belange der Bundesrepublik in seiner generalklauselartigen Weite verfassungs- und europarechtlich problematisch. Das Schrifttum spendet der Regelung wie ihrer gerichtlichen Anwendung indes auch keinen Beifall. So heißt es etwa:

Der (sehr) unbestimmte Rechtsbegriff der „sonstigen erheblichen Belange“ ist verfassungs- und europarechtskonform eng auszulegen (Hailbronner, HStR VI, § 131 Rn. 67 f.; Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Stark, Art. 11 Rn. 41). Die entsprechenden Erwägungen müssen den ersten beiden Alternativen nach ständiger Rechtsprechung „wenn auch nicht gleich-, so doch nahekommen“, und so erheblich sein, „dass sie der freiheitlichen Entwicklung in der Bundesrepublik aus zwingenden staatspolitischen Gründen vorangestellt werden müssen“ (BVerwGE 3, 171, 176; BVerfGE 6, 32, 43; BVerwG, Buchholz 402.00 § 7 PassG Nr. 1; VGH Baden-Württemberg, NJW 2000, 3658, 3659; Rachor, in: Lisken/Denninger 2007, F Rn. 829). Nur wenn diese Grundsätze beachtet werden, ist die generalklauselartige Abs. 1 Nr. 1 mit der verfassungs- und europarechtlich gewährleisteten Ausreisefreiheit vereinbar (Rossi, AöR 2002, 612, 626 ff.).

 Ob die Rechtsprechung diese selbst gesetzten hohen Anforderungen in der Spruchpraxis immer erfüllt, kann durchaus bezweifelt werden. Das gilt insbesondere für den des Öfteren bejahten „sonstigen erheblichen Belang“ des internationalen Ansehens der Bundesrepublik Deutschland (ganz abl. Rossi, AöR 2002, 612, 632 ff.: „Deckmantel, der die Ausreisefreiheit im Ergebnis unter einen allgemeinen Politikvorbehalt stellt“; kritisch auch Rachor, in: Lisken/Denninger 2007, F Rn. 831). (Hornung/Möller/Hornung, 1. Aufl. 2011, PaßG § 7 Rn. 11, 12)

Dieses Restriktionserfordernis wird auch im Eilrechtsbeschluss des VG München zunächst anerkannt:

Der unbestimmte Rechtsbegriff der sonstigen erheblichen Belange der Bundesrepublik Deutschland ist unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Ausreisefreiheit in Art. 2 Abs. 1 GG eng auszulegen.

Dieser Maßstab entpuppt sich aber als Lippenbekenntnis. Sodann wird aber keine restriktive Auslegung vorgenommen, sondern die Ermessensentscheidung der Sicherheitsbehörde schlicht anhand der verfassungsschutzrechtlichen Bewertungen gerechtfertigt. Einen eigenen Maßstab bildet die Kammer hingegen nicht. Nicht einmal eine Auseinandersetzung mit der Ermessensfehlerlehre oder der stets zu beachtenden Verhältnismäßigkeit findet statt. Stattdessen verweist die Kammer auf die in der kurzen Zeit lediglich mögliche summarische Prüfung. Offenbar setzt die Kammer „summarisch“ mit „oberflächlich“ gleich. Dabei bedeutet summarisch zunächst nur, dass die Kammer in Abweichung vom Amtsermittlungsgrundsatz keine über den Vortrag der Parteien hinausgehende Prüfungspflicht trifft.

Einen Stellenwert hingegen misst die Kammer der gesetzlichen Vollzugsanordnung zu. Aus Sicht der Kammer führt diese zu einem grundsätzlichen Vorrang des öffentlichen Vollzugsinteresses gegenüber dem Suspensivinteresse des Antragsstellers. Dies ist zwar grundsätzlich richtig, doch darf dies nicht dazu führen, dass die Abwägung mit den verfassungs-und europarechtlichen Garantien der Freizügigkeit gar nicht mehr stattfindet. Denn diese Abwägung ist doch zugleich – wie die Kammer im Anschluss an das Schrifttum beigibt – Voraussetzung dafür, dass die Ausreiseversagung überhaupt verfassungskonform ist. Nahezu ironisch ist daher die Ausführung der Kammer, dass die Antragsteller schon im Rahmen der Anhörung keine besonderen individuellen Gründe vorgetragen (hätten), weshalb sie in besonderem Maße auf die Ausreise angewiesen wären. Als sei der Gebrauch der Freizügigkeit in besonderem Maße individuell begründungsbedürftig!

Nimmt man diesen Maßstab der Kammer ernst, führt dies dazu, dass zumindest auf Ebene der bayerischen Rechtsprechung ein Eilrechtsschutzverfahren gegen Ausreiseversagungen nicht mehr aussichtsreich ist. Denn wenn die Vermutungswirkung für die Richtigkeit der Vollzugsanordnung soweit reicht, dass besondere individuelle Gründe vorliegen müssen, führt dies zu einer Umkehrung des rechtsstaatlichen Verteilungsprinzips. Die sofortige Beschwerde zum Bayerischen Verwaltungsgerichtshof half nicht ab, sondern bestätigte die Kammer in ihrer Rechtsauffassung. In der Folge lassen sich im wesentlichen drei Lehren aus dem Verfahrensgang ziehen:

  1. Wie schon in der causa Potsdam-Sellner verschleifen sich die sicherheitsrechtlichen Begriffe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung mit den Bewertungen des Verfassungsschutzes zu einem umfassenden Verdachtstatbestand. Dieser ist einer gerichtlichen Kontrolle kaum mehr zugänglich, da die Gerichte geneigt sind, sich der Prognose der Sicherheitsbehörden anzuschließen.
  2. Die Bewertungen des Verfassungsschutzes sind für sich genommen ein abschließender Eingriff in die Meinungsfreiheit. Werden sie aber zur Bestimmung anderer unbestimmter Rechtsbegriffe herangezogen, verlängert sich der Arm des Verfassungsschutzes bis in das Strafrecht hinein, wie vorliegender Fall veranschaulicht:

Die Verfassungsschutzbehörden haben den Begriff der Remigration als verfassungsfeindlich markiert. Anhand dieser Bewertung wird die unbestimmte Norm der „sonstigen erheblichen Belange“ iSv § 7 I Nr.1 PassG ausgefüllt, und Teilnehmern einer politischen Veranstaltung im europäischen Ausland die Ausreise verweigert. Verstoßen die Betroffenen gegen die Ausreiseuntersagung, machen sie sich zugleich strafbar, § 24 PassG.

  1. Dieser Dreischritt Verfassungsschutzrecht – (präventives) Sicherheitsrecht – (repressives) Strafrecht durchbricht das Trennungsgebot, wonach die Aufgaben von Strafverfolgung, Polizei und Geheimdienst zu trennen seien, strukturell.

Der Sache nach ist der Verfassungsschutz längst zu einer politischen Geheimpolizei geworden. Es hat den Anschein, dass die Gerichte sich dessen nicht ganz bewusst sind, wenn sie willfährig Ausreiseuntersagungen in Eilverfahren bestätigen.

Beitragsbild / Symbolbild und Bild oben: Novikov Aleksey; Bild darunter: sebra / beide Shutterstock.com

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