Von Dario Herzog

Das Mehrheitswahlrecht kann ganz schön undemokratisch sein. Aber auch beim Mehrheitswahlrecht gibt es Unterschiede: In Frankreich gilt seit 1958 das zweistufige Mehrheitswahlrecht. Das heißt, entweder erzielt der Kandidat im ersten Wahlgang eine absolute Mehrheit, andernfalls gibt es einen zweiten Wahlgang und eine Stichwahl. Das heute bekannte relative Mehrheitswahlrecht in Einerwahlkreisen besteht in Großbritannien in seiner heutigen Form dagegen seit 1950, geht aber auf eine lange Entwicklung zurück, beginnend mit dem 19. Jahrhundert. Der Unterschied zum französischen Modell: wer die relative Mehrheit erzielt, zieht als Sieger in das jeweilige Parlament ein. Das ist in Zeiten, in denen oppositionelle Parteien nur wenige Prozentpunkte erreichen, keine wirkliche Gefahr für die großen Parteien. So teilten sich die beiden großen Parteien in Großbritannien Labour (Sozialdemokraten) und Tories (Konservative) bislang die meisten Parlamentssitze. Nun könnte sich das relative Mehrheitswahlrecht im Vereinigten Königreich als Bumerang erweisen. Warum? Weil die Reformpartei des Brexit-Organisators Nigel Frage immer stärker wird.

Kein Phänomen nur in der Bundesrepublik
Die rechte parlamentarische Opposition AfD hat in Deutschland enorme Umfragewerte, in Frankreich ist es mit dem Rassemblement National ähnlich, erst recht in Österreich mit der FPÖ. In Ungarn, Belgien, Italien und den Niederlanden regieren schon Vertreter der parlamentarischen Rechten. Selbst in Rumänien setzte sich bei der vergangenen Präsidentenwahl der rechte Kandidat durch. Allerdings sind Umfragewerte nicht gleich mit politischer Partizipation verbunden. In Österreich konnte „man“ gerade noch ein Bündnis der FPÖ mit der ÖVP verhindern. In Rumänien musste man gleich zweimal wählen, weil der EU das Ergebnis nicht gefiel. Und in der Bundesrepublik hindert die bekannte Brandmauer an richtiger politischer Teilhabe. Der Erfolg hat nicht selten mit dem jeweiligen Wahlrecht zu tun. Und da in Großbritannien zwar das Mehrheitswahlrecht gilt, aber jene Form, bei der der Kandidat gewinnt, der die relative Mehrheit erzielt, könnte es künftig archetektonische Verschiebungen im politischen Leben auf der Insel geben.

Die Reform UK-Partei
Besonders rechts ist die Reform UK-Partei von Nigel Farage im europäischen Vergleich indes nicht. Sie betont die Freiheit des Einzelnen und die wirtschaftliche Eigenverantwortung, fordert niedrigere Steuern und insbesondere eine effiziente Verwaltung, zudem die Stärkung britischer Werte. Und, natürlich, ist sie migrationskritisch. Kurzum, ihr Ziel: Ein einfacheres, transparenteres und bürgernahes Großbritannien, in dem Leistung belohnt wird und der Staat seine Aufgaben auf das Wesentliche konzentriert. Man könnte sie der eher rechtsliberalen Strömung unter den europäischen Parteien zuordnen. Und was sie aktuell besonders ist: optimistisch, entschlossen und zukunftsorientiert. Bereits Anfang des Jahres zeichnete sich im Vereinigten Königreich eine kleine Sensation ab: Reform UK erreichte in Umfragen nicht nur hohe Werte, sondern ging erstmals als stärkste Kraft hervor. Das hat sich gefestigt. Regelmäßig wird sie in Umfragen – ähhnlich wie die AfD – bei rund 25 Prozent taxiert. Und das ist nicht etwa eine Momentaufnahme, nein, die Umfragen halten sich seit Monaten konstant bei deutlich über 20 Prozent.

Relative Mehrheit reicht aus
Reform UK hat bei den britischen Kommunalwahlen Anfang Mai erhebliche Zugewinne verzeichnet. Sie gewann neun von insgesamt 23 Bezirken, in denen sie angetreten war. Diese Erfolge gingen größtenteils zulasten der ehemals konservativen Tories. Darüber hinaus konnte Reform UK bei einer Nachwahl im Wahlkreis Runcorn and Helsby einen Sitz im Parlament, dem Unterhaus, erringen. Parteichef Nigel Farage sprach im Anschluss von einem Wendepunkt, die politische Dominanz der beiden bislang im Wechsel regierenden Parteien Labour und Tories sei im Endstadium. Kein Wunder, denn neben diesen beiden Parteien treten in der Regel auch linke und grüne Parteien an sowie die Liberaldemokraten. So wird es in vielen Wahlbezirken ausreichen, mit 20 bis 30 Prozent die relative Mehrheit zu erreichen – und den Wahlkreis zu gewinnen. Tja, da kann man dem eigentlich undemokratischen Mehrheitswahlrecht doch einmal dankbar sein, oder?

Beitragsbild / Symbolbild und Bild oben: Andy.LIU / Shutterstock

Abonnieren Sie auch unseren Telegram-Channel unter: https://t.me/Freiburger74Standard

Treten Sie dem Freiburger Standard bei

Wir senden keinen Spam! Erfahren Sie mehr in unserer Datenschutzerklärung.