Von Jakob Maria Mierscheid
Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluss vom 13. März 2025 den gegen die außerordentliche Einberufung des Bundestages gerichteten Eilanträge der AfD-Fraktion als „offensichtlich unbegründet“ abgewiesen. Die ungewöhnlich kurz gefassten Entscheidungen finden sich hier. In der knappen Begründung heißt es, dass ein Recht auf Nicht-Sitzung des neu gewählten gegenüber dem alten Bundestag nicht bestehe. Als verfassungsrechtliches Organ sei der Bundestag bis zur Neukonstituierung voll legitimiert und handlungsfähig. ist das der Fall?
I. Ein aktueller Exkurs zur Auslegungsproblematik
Besonders merkwürdig mutet es an, dass der Senat ausdrücklich offenlässt, ob die Konstituierung des neuen gegenüber dem alten Bundestag vorzugswürdig gewesen sei, da die Abgeordneten des neuen Bundestages gar nicht den Wünsch äußerten, sich zu konstituieren. Im Dunkeln bleibt dabei, auf welchem Wege der neue Bundestag denn derartige Begehren äußern könnte. Ein formales Verfahren sieht das Grundgesetz hierzu nicht vor. Es ist daher unklar, was der Senat überhaupt damit meint, dass der neue Bundestag sein Anliegen auf Konstituierung vorbringen könne. Es nimmt sich in diesem Zusammenhang fast zynisch aus, einen verfassungsrechtlichen Antragsteller auf die Möglichkeit eines nicht geregelten Verfahrens zu verweisen. Die Fraktion der AfD richtete sich mit ihren Anträgen gegen die kurzfristige Einberufung des Bundestages. Diese diente, wie auch die verantwortlichen Politiker öffentlich äußerten, allein dem Zweck mit den Mehrheiten des alten Bundestages eine Verfassungsänderung der sogenannten Schuldenbremse durchzusetzen. Doch im Einzelnen:
II. Der Maßstab als Wegschneise der Urteilsfindung
Unterschiedlich Auslegungsmöglichkeiten und Auslegungsmethoden führen zu je unterschiedlichen Entscheidungen. Diese Einsicht ist trivial, doch findet sie im vorliegenden Fall erneut Bestätigung. Die streitgegenständliche Vorschrift findet sich in Art. 39 GG:
(1) Der Bundestag wird vorbehaltlich der nachfolgenden Bestimmungen auf vier Jahre gewählt. Seine Wahlperiode endet mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages. Die Neuwahl findet frühestens sechsundvierzig, spätestens achtundvierzig Monate nach Beginn der Wahlperiode statt. Im Falle einer Auflösung des Bundestages findet die Neuwahl innerhalb von sechzig Tagen statt.
(2) Der Bundestag tritt spätestens am dreißigsten Tage nach der Wahl zusammen.
(3) Der Bundestag bestimmt den Schluß und den Wiederbeginn seiner Sitzungen. Der Präsident des Bundestages kann ihn früher einberufen. Er ist hierzu verpflichtet, wenn ein Drittel der Mitglieder, der Bundespräsident oder der Bundeskanzler es verlangen.
Der Wortlaut der Vorschrift legt nahe, dass bis zur (Neu-)konstituierung des Bundestages der alte Bundestag auf Wunsch eines Drittels seiner Mitglieder eine Sitzung abhalten kann. Daraus schließen die gegenständlichen Eilrechtsbeschlüsse wie die wohl herrschende Auffassung des Schrifttums, dass bis zur Neukonstituierung der alte Bundestag vollständig als legislatives Organ legitimiert sei. Diese sich allein auf „den“ Wortlaut (vgl. zur Kritik an der reinen Wortlautauslegung) stützende Auslegung verkennt indes den systematisch-teleologischen Zusammenhang.
Denn die Vorschrift ordnet zweierlei an: Erstens geht es um die Organidentität. Als verfassungsrechtliches Organ besteht der Bundestag über die Legislaturperioden fort; trotzdem besteht zwischen den alten und dem neuen Bundestag ein disruptives Verhältnis. Spätestens nach dreißig Tagen muss der Bundestag einberufen worden sein, da ansonsten die demokratische Legitimierung nicht mehr gegeben ist. Dass Art. 39 Abs. 3 Satz 3 GG bis zum Zeitpunkt der endgültigen Disruption den Abgeordneten die Möglichkeit einräumt, sich jederzeit auf Verlangen eines Drittels der Mitglieder des Bundestages zu versammeln, dient dazu, eine parlamentslose Übergangszeit zu verhindern.
Eine solche schaffte tatsächlich eine demokratische Legitimationslücke im Übergangsstadium zwischen neuem und alten Bundestag. Diese konnte nach der alten Regelung des Grundgesetzes durchaus entstehen. Dies wollte der verfassungsändernde Gesetzgeber mit der Neufassung des Art. 39 GG im Jahre 1976 ändern und eine lückenlose parlamentarische Kontrolle gewährleisten. Die Vorschrift des Art. 39 GG ist somit im Sinne eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses auszulegen.
Die Regel sieht die unverzügliche Einberufung des Bundestages binnen dreißig Tagen vor. Als ergänzende Ausnahme tritt die Möglichkeit der jederzeitigen Einberufung daneben. Diese soll die Flexibilität der Legislative auch in plötzlich neu auftretenden unvorhersehbaren Situationen sichern. Dies entspricht der dogmatischen Figur der Wesentlichkeitstheorie. Wesentliche Entscheidungen des politischen Prozesses sollen dem Bundestag überantwortet werden. Doch die Aufhebung der Schuldenbremse reagiert nicht auf eine unvorgesehene Situation. Die chronische Unterfinanzierung der Bundeswehr, der Krieg in der Ukraine und die unklare Haltung der USA zum NATO-Bündnis sind seit langem Gegenstand der politischen Diskussion.
Von einem plötzlich auftretenden Ereignis, welches die außerordentliche Einberufung des Bundestages sachlich erzwingt, kann keine Rede sein. Nicht einmal die Initiatoren dieses juristischen Schachzugs behaupten dies. Vielmehr tritt der Wille, noch vor Änderung der Mehrheitsverhältnisse verfassungsrechtliche Fakten zu schaffen, in allen öffentlichen Äußerungen der beteiligten Politiker klar hervor. Von der eine potenzielle Legitimationslücke in Form der parlamentslosen Übergangszeit schließenden Lücke Ausnahmeregelung des Art. 39 Abs. 3 GG nicht umfasst ist somit die taktische Ausnutzung dieser Interimsphase.
III. Parlamentsfeindlicher Formalismus
Die hohe Stellung der Abgeordneten im Deutschen Bundestag ist nicht etwa Selbstzweck, sondern Ausfluss des Demokratieprinzips. Folglich hat die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts die Vorschrift des Art. 38 Abs. 1 GG entlang der Kasuistik der Reichweite der europäischen Integration immer weit ausgelegt. So wurde aus dem Grundsatz der allgemeinen, freien, gleichen und unmittelbaren Wahl wie der Stellung des Abgeordneten als Vertreter des gesamten deutschen Volkes das Recht des Bundestages auf umfassende parlamentarische Kontrolle und andauernde Kontrollmöglichkeiten gefolgert. Bereits in seinem Maastricht-Beschluss hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass die klassichen Wahlrechtsgrundsätze grundlegende Entscheidungs-und Gestaltungsmöglichkeiten der nationalen Legislative voraussetzen. Dies bedeutet, dass die europäische Integration nicht so weit reichen darf, dass immer weitere Zuständigkeiten an die supranationale Struktur der europäischen Integration abgegeben werden. Ein sozusagen seiner Zuständigkeiten entkernter Bundestag ließe das Wahlrecht der Bürger ins Leere laufen.
Weiter geht das Bundesverfassungsgericht in seinem Lissabon-Urteil, indem es sich auch für Akte der europäischen Union eine Kontrollmöglichkeit vorsieht, wenn diese evident ihre Kompetenzen überschreiten (ultra-vires-Kontrolle).
In all diesen Verfahren über die Reichweite der europäischen Integration war die Verteidigungslinie der Bundesregierung ein positivistischer Formalismus. Denn schließlich habe doch etwa beim Vertrag von Lissabon oder der Euro-Rettung der Bundestag selbst über die gesetzlichen Regelungen entschieden. Einem solchen Formalismus hat zumindest damals das Bundesverfassungsgericht eine Absage erteilt. Die Legislative darf sich auch nicht auf parlamentarischem Wege ihrer Rechte entledigen. Ebenso wenig wie es ein Recht auf Selbstauflösung gib, gibt es kein Recht auf Selbstentäußerung. Es ist daher bedauerlich, dass das Bundesverfassungsgericht sich einer solchen materiellen Auslegung der Parlamentsrechte im vorliegenden Falle verschloss.
Dies erinnert an seine ebenfalls sehr förmliche Auslegung des Vertrauensantrags des Bundeskanzlers (siehe dazu hier). Die Beurteilung der ungeschriebenen Tatbestandsvoraussetzung der Vertrauenskrise überließ das Bundesverfassungsgericht nahezu vollständig dem Bundeskanzler, behielt sich allerdings eine Evidenzkontrolle für besonders eklatante Missbrauchsfälle vor. Im Falle der Aufhebung der Schuldenbremse hat aber der Senat nicht einmal von dieser naheliegenden Evidenzkontrollmöglichkeit Gebrauch gemacht. Dabei hätte es durchaus nahegelegen, zwar ein grundsätzliches Recht auf jederzeitige Einberufung anzuerkennen, aber die Maßgabe des Willkür-und Missbrauchsverbots aufzustellen.
Ein solcher förmelnder Rückzug kann nur dahingehend gedeutet werden, dass sich das Bundesverfassungsgericht als oberster Hüter der Verfassung mit den skizzierten materiellen Fragen nicht befassen wollte. Ähnlich wie im Falle des kurzzeitig per Haftbefehl gesuchten Landtagsabgeordneten Daniel Halemba zeigt sich, dass in der Übergangszeit zwischen konstituiertem und neu zu konstituierenden Bundestag eine verfassungsrechtliche Schutzlücke besteht, die der schneller handelnden Exekutive und ihrer parlamentarischen Mehrheit eine machtpolitische Prämie verleiht.
So konnte sich nach herrschender Auffassung zahlreicher Staatsrechtler der designierte Abgeordnete Halemba nicht auf seine Abgeordnetenrechte, insbesondere die Immunitätsregelungen, berufen, da der neue Landtag noch nicht konstituiert war. Rein vorsorglich hob der Landtag dennoch die Immunität auf. In diesem Graubereich zeichnet sich eine Botschaft und Warnung ab: Im Übergang der Legislativen offenbaren sich rechtliche Unklarheiten, die nur machtpolitisch beseitigt werden können. Mit anderen Worten: in rechtlichen Lücken drängt sich der Verweisungszusammenhang von Recht und Macht, im Ausgang immer zugunsten der Macht.
Im Kern haben die angesprochenen Entwicklungen, seien sie in ihrer politischen Bedeutung auch von unterschiedlichem Gewicht, eines gemeinsam: sie betonen die formellen Einzelrechte oder die isolierten Regelungen, vergessen aber die rechtstranszendentalen Voraussetzungen dieser. Die Rechte des Parlaments sind eben nicht in der Summe ihrer Einzelbestimmung zu ergründen, sondern vor dem Hintergrund der sie bestimmenden Legitimationsidee, der von Böckenförde als zwischen Staat, Institutionen und Volk beschriebenen ununterbrochenen und umfassenden Legitimationskette, auszulegen. Pointiert gesagt: ein Parlament, das sich selbst abschafft, (designierte) Abgeordnete unbekümmert der Strafjustiz aussetzt und – wie jetzt geschehen – zum Spielball parteipolitischer Taktik wird, gefährdet auf Dauer den eigenen normativen Grund.
Das Bundesverfassungsgericht hat im Gegensatz zur überkommenen Wesentlichkeitstheorie auch die Tragweite des Beratungsgegenstandes nicht einmal berücksichtigt. Denn es geht mitnichten um eine juristische Banalität, sondern die verfassungsändernde Durchbrechung einer finanzpolitischen Nachhaltigkeitsregelung mitsamt kaum absehbaren Folgen für die Budget-und Gestaltungsrechte kommender Legislaturperioden.
IV. Verfassungsrechtliche Krisensituation
Das Vorgehen offenbart nicht nur eine Missachtung des Wählervotums, sondern hat den Verfassungsstaat schon jetzt in eine Krise gestürzt. Verfassungsrechtliche Krisen entstehen dann, wenn unter dem Einfluss kompetenzieller Unklarheiten sich materielle Legitimationskonfliktlinien abzeichnen.
Im von 1859 bis 1866 währenden preußischen Verfassungskonflikt ging es vordergründig ebenfalls um eine Heeresreform und seine Budgetierung. Trotz anfänglicher provisorischer Bewilligung widersetzte sich das Parlament zunehmend den Heeresreformen. Zum Höhepunkt des Verfassungskonflikts berief Wilhelm I Bismarck zum preußischen Ministerpräsidenten. Unter Rückgriff auf F.J. Stahls konservative Rechts-und Staatsauffassung entwickelte Bismarck die berühmte Lückentheorie. Trete ein grundsätzlicher Konflikt zwischen Parlament und Krone über Haushaltsfragen auf, sei dieser Fall verfassungsrechtlich nicht geregelt. Diese Regelungslücke werde durch den Inhaber der Souveränität, den Monarchen, ausgefüllt, da er letztlich den Staat konstituiere. Diese Entwertung des klassischen Budgetrechts schuf auf lange Sicht die Grundlage für die Bismarck´sche Reichsgründung von oben. Die Lücke, die sich zwischen Legalität und Legitimität auftat, wurde machtpolitisch geschlossen.
Verfassungsrechtliche Stabilität ist dann gewährleistet, wenn sich die Contraposition von Legalität und Legitimität nicht auftut. Schmitts gleichnamige Schrift beschreibt die Krisenzeit der Weimarer Republik. Krise geht etymologisch auf das altgriechsiche Verb krinein (trennen, unterscheiden) zurück. Eine Staatskrise bedeutet also, dass die Verfassung am Scheideweg steht. Wer die Entscheidung über die Krise verfassungsrechtlicher Lücken fällt, wird der (künftige) Souverän sein. Zum Nachdenken regt daher an, dass das Bundesverfassungsgericht auf den materiellen Souverän des neu gewählten Parlaments verweist. Mag der angedeutete Weg auch formal nicht geregelt sein, kann dies zumindest so verstanden werden, dass das Gericht sich einer selbstbewussten und selbsttätigen Konstituierung der neu gewählten Abgeordneten nicht in den Weg stellen würde. Dies wäre aber tatsächlich der Auftrag zur verfassungsgebenden Gewalt. Wenn Intention des Urteils mithin war, den Spielball in das Feld des eigentlichen Souveräns zurückzuspielen, sollten sich alternativ nennende Kräfte darauf künftig berufen.
Beitragsbild / Symbolbild: nitpicker; Bild oben: Juergen-Nowak; Bild darunter: nitpicker / alle Shutterstock.com; Bild unten: Bismarck, Urheber unbekannt.
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