Von Jakob Maria Mierscheid

Die Verurteilung des Weimarer Familienrichters wegen Rechtsbeugung rief vielfach Empörung hervor. Obgleich auf formaler Rechtsanwendung beruhend, wurde die Entscheidung gerade von Kritikern der Corona-Maßnahmen als ungerecht oder unverhältnismäßig empfunden. Folgender Beitrag leitet mit einer kurzen ideengeschichtliche tour d’horizon zum Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit ein, um sodann die Bindung des Richters an „Recht und Gesetz“ zu beleuchten.

Zur inneren Rechtfertigung des Rechts
Die Frage nach der Richtigkeit des Rechts ist die Frage nach der inneren Rechtsfertigung des Rechts. Denn über die nackte Existenz – das brutum factum – hinaus zielen Recht und Rechtsanwendung auf die allgemeine Akzeptanz der Rechtsgenossen. Mit anderen Worten lautet also die bestimmende Frage: welche Voraussetzungen müssen vorliegen, dass ein Gesetz oder ein Richterspruch Anspruch auf normative Richtigkeit hat. Hierzu sind zwei äußere Contrapositionen denkbar: es ließe sich argumentieren, dass richtiges Recht dasjenige sei, was dem Gebot der materialen Gerechtigkeit entspricht. Positives Recht und Recht finden ihren Grund und ihre Grenze im Gerechtigkeitspostulat. Umgekehrt kann demnach ungerechtes Recht nicht beanspruchen, überhaupt als Recht anerkannt zu werden. Diese oftmals als Naturrecht apostrophierte Auffassung fußt auf einer langen Überlieferung antiker und christlicher Staats-und Gerechtigkeitstheorien. Berühmt ist in diesem Zusammenhang Augustinus´ Ausspruch, dass wenn man von einem Staat das Recht wegnähme, nichts anderes als eine Räuberbande übrigbliebe. Recht und Gerechtigkeit werden hier miteinander gleichgesetzt. Das Recht ist demnach die äußere Form des Inhalts der Gerechtigkeit.

Doch bereits vor Augustinus kamen Zweifel auf, ob die Berufung auf die normative Richtigkeit des Rechts nicht eine ideologische Überfrachtung, ja Täuschung im Dienste der Herrschenden darstellt. Im Ersten Buch von Platos Politeia (hierzu ebenfalls ein Beitrag im Freiburger Standard) hält Thrasymachos der Frage nach dem Gerechten und Guten des Sokrates seinem Gesprächspartner entgegen, dass das Gerechte stets dem Stärkeren diene. Was gerecht ist, ist somit wesentlich von der politischen Macht und ihrer Definitionshoheit abhängig.

Der Dialog spiegelt Platons Auseinandersetzung mit den Sophisten wieder. Während Platons Ideenlehre von der Existenz und Erkennbarkeit des Gerechten und Guten ausgeht, halten die Sophisten, repräsentiert durch Thrasymachos, dem eine relativistische beziehungsweise machtrealistische Sichtweise entgegen. Dabei ist Thrasymachos´ Auffassung nicht etwa nur als Apologie des Rechts des Stärkeren zu verstehen, sondern wie etwa Ralf Dahrendorf und einige Straussians betonten zugleich eine Ideologiekritik avant la lettre. Denn normative ehrgeizige Ziele und staatspolitische Selbstdarstellungen sind allzu leicht in den Dienst der jeweils Herrschenden zu stellen – Wer Menschheit sagt, der will betrügen.

Im Fortgang des Streitgesprächs führt Sokrates den Versuch der Widerlegung eines derartigen machtpolitischen Relativismus. Sokrates´ Erwiderung mündet endlich in einem berühmt gewordenen Gedanken: es sei besser Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu tun. Dies nimmt den zentralen Topos der Feindesliebe in der christlichen Ethik vorweg. Denn wenn das Gerechte objektiv erkennbar ist, ist Recht nicht das dem Herrschenden oder dem Volke jeweils Nützlichste, sondern vielmehr kann umgekehrt das Unrecht niemals im Interesse des Volkes und seiner Herrscher sein, mit der Folge, dass selbst dem ganz Anderem, dem Fremdem, ja dem Feind Achtung entgegengebracht werden muss, weil er ja Teil derselben objektiven Wahrheit ist.

Dieser rechts-und staatsphilosophische Tiefenzusammengang verbindet Antike und Christentum miteinander. Es sei nebenbei angemerkt, dass vulgär-nietzscheanistische Verfechter einer „vorchristlichen“ und daher besonders „ursprünglichen“ europäischen Kultur diesen ideengeschichtlichen Zusammenhang gerne verkennen, indem sie „die Antike“ oder einen diffusen Paganismus dem angeblich wesensfremden Christentum gegenüberstellen. Im Kern handelt es sich hierbei um eine typisch postmoderne Ideentravestie und Farce.

Doch zurück zu den Höhen und Tiefen des Rechts
Sowohl Platos Gerechtigkeitspostulat als auch Thrasymachos´ Ideologiekritik entfalten bis in die heutige Debatte hinein die Begrifflichkeiten und wechselseitigen Argumente. Eine Fortführung der machtrelativistischen Position bildet die positivistische Selbstbescheidung des Rechts, wonach das Recht nur das positiv gesetzte, das satzungsgemäß erlassene Gesetz sei. Exemplarisch findet sich diese Contraposition zum klassischen Naturrecht in Hans Kelsens Normativismus wieder. Lapidar gibt er die moralische Gleichgültigkeit seiner Reinen Rechtslehre zu erkennen:

„Darum kann jeder beliebige Inhalt Recht sein.“

Nach dem Zweiten Weltkrieg fand diese Auffassung kaum Beifall. Vielmehr erlebte das Naturrecht eine kurzzeitige Renaissance, die sich im Grundgesetz teils niederschlägt. So appelliert die Präambel an die Verantwortung vor Gott und dem Menschen, Art. 2 I GG spricht vom Sittengesetz als Schranke der Allgemeinen Handlungsfreiheit, und auch in den Staatsstrukturprinzipien des Art. 20 GG werden Recht und Gesetz voneinander unterschieden. Zwar wurde in der Rechtswissenschaft gerade unter dem Einfluss von Bernd Rüthers´ Forschungen die Positivismus-Legende als Grund für die Hörigkeit des Juristenstandes gegenüber den nationalsozialistischen Machthabern alsbald verworfen, doch riss die Berufung auf überpositives, der materialen Gerechtigkeit verpflichtetes Recht nicht ab.

Wie im vorangegangen Beitrag ausgeführt, spielte in der Bundesrepublik die naturrechtlich grundierte Radbruch´sche Formel eine große Rolle bei der Vergangenheitsbewältigung durch Recht. Im Frankfurter Auschwitz-Prozess wie in den späteren Mauerschützen-Fällen stellten Anklage und Richter regelmäßig auf naturrechtliche Überlegungen ab, wenn es darum ging, die Behauptungen der Angeklagten, sie hätten lediglich Anweisungen oder Befehle befolgt, zu widerlegen. Demnach scheint die bundesrepublikanische Judikatur davon auszugehen, dass sich das Recht nicht in der positiven Setzung erschöpft, sondern der materialen Gerechtigkeit zumindest als regulativem Ideal bedarf.

1. Folgen für die Auslegung des Rechts
Gegen die Eingangsüberlegungen ließe sich einwenden, dass diese mit der Frage der Rechtsanwendung nichts zu tun hätten, beträfen sie doch höchstens die Ebene der Normerzeugung und nicht deren Anwendung. Dies ist nach hier vertretener Auffassung nicht zutreffend, da – wie sowohl der frühe Schmitt in Gesetz und Urteil als auch sein späterer Kontrahent Kelsen in seltener Einmütigkeit erkannten – der Unterschied zwischen Normerzeugung und Normanwendung kein substanzieller, sondern ist ein gradueller. Denn in beiden Fällen handelt es sich um Entscheidungen. Lediglich der Ermessenspielraum fällt unterschiedlich weit aus. Während dem Gesetzgeber eine größere Freiheit bei der Neuregelung sozialer Sachverhalte zukommt, hat der Richter einen schmaleren Grat an möglichen Entscheidungen zur Verfügung. Dieser Grat wird auch als sogenannter Vertretbarkeitsspielraum bezeichnet. Wird dieser überschritten, zieht dies entweder die nächstinstanzliche Aufhebung oder schlimmstenfalls die Strafbarkeit wegen Rechtsbeugung nach sich. Wie weit dieser Vertretbarkeitsspielraum reicht, ist umstritten.

Der Wortlaut und die Fiktion des historischen Gesetzgebers
 Zu den wohl unter Juristen wie Nicht-Juristen verbreitetsten Auffassungen gehört, dass der Richter sich an nichts anderes als den Wortlaut des Gesetzes zu halten habe. Denn aus ihm ginge der Wille des historischen Gesetzgebers von selbst hervor. Besondere Verbreitung genießt diese Auffassung im Orginarismus oder Textualismus US-amerikanischer Provenienz. Prominenter Vertreter dieser Auffassung war etwa der Supreme-Court-Richter Antonin Scalia, der in zahlreichen Entscheidungen, die nur sehr erschwert änderbare Verfassung der Vereinigten Staaten anhand der Maßstäbe des 18. und 19. Jahrhunderts auslegte oder jedenfalls auslegen wollte. 

Das Medium der Sprache im Recht
Im Originarismus kommt ein nahezu technisches Verständnis von Sprache zum Ausdruck. Demnach sind Wörter mehr oder minder Codierungen eines bestimmten Inhalts. Der Richter ist demnach ein „Decodierer“ eines vom Gesetzgeber festgelegten Inhalts. Ein solches Verständnis hat mit der Wirklichkeit menschlicher Sprache indes wenig zu tun. So ist Sprache als menschliche Kulturleistung verbunden mit den konkreten Erfahrungen eines Volkes und seines Kulturraums. In ihr spiegeln sich Mythen, Religion, Literatur und politische Leiderfahrungen wieder. Sprachbilder und lautmalerische Ausdrücke überschreiten den sogenannten Wortlaut und verleihen dem sprachlichen Ausdruck seine konkrete Anschaulichkeit. In diesem Zusammenhang nannte Martin Heidegger die Sprache das Haus des Seins.

Daraus folgt, dass auch die Sprache des Rechts, obgleich Fachsprache doch Umgangssprache ist, und nicht wie eine selbstreferentielle Programmiersprache operationalisierbar ist. Hinzu tritt das Problem der Rekonstruktion des gesetzgeberischen Willens. Denn wie lässt sich dieser genau ermitteln? So enthält ein Gesetzgebungsprozess zahlreiche Willensakte in Form etwa von Ausschussunterredungen, Plenardebatten oder informell geschlossenen Kompromissen. Die Rede vom Willen des Gesetzgebers ist somit eine psychologistische Fiktion, die die natürliche personale Willensbildung einfach auf „den“ Gesetzgeber überträgt.

Fürderhin sind auch unter Beibehaltung der Fiktion des gesetzgeberischen Willens nicht alle Schwierigkeiten beiseite geräumt. So fügt sich eine gesetzliche Neuregelung in das System der bestehenden Normen ein. Ein neues Gesetz, etwa im Bereich des Mietrechts, würde nicht die grundlegenden Wertungen und Prinzipien des Allgemeinen Schuldrechts umwerfen können.

Der juristische Architekt der großen Schuldrechtsreform im Jahre 2002 Claus-Wilhelm Canaris bezeichnete dies als das grundlegende Problem der Fernwirkung von gesetzlichen Neuregelungen, die innerhalb einer Gesetzgebungskommission schwer vorauszusehen seien. In einer seiner wenigen methodischen Einlassungen begegnete das Bundesverfassungsgericht dem mit der Formel, dass ein Gesetz klüger als sein Gesetzgeber sein könne. Die überlegene Klugheit des Gesetzes gegenüber dem Gesetzgeber kann sich aber nur dann Geltung verschaffen, wenn man die rechtsschöpferische Komponente der Rechtsanwendung anerkennt. Dies bedeutet aber den Entscheidungsspielraum des Richters zu erweitern. Soweit Rechtsanwendung auch Rechtsschöpfung ist, erhöht dies das Spannungsfeld zwischen Gesetz und Urteil. Denn ein uferloser richterlicher Dezisionimus würde den Stufenbau des Rechts und die staatliche Autorität des demokratischen Gesetzgebers unterlaufen und in ein unübersichtliches Fall-zu-Fall case law führen. Er wäre mithin auch nicht mit dem Grundsatz der Gesetzesbindung aller staatlichen Gewalt vereinbar (Mehr dazu im (über-)nächsten Beitrag).

Beitragsbild / Symbolbild und Bild oben: nitpicker; Bild in der Mitte: Cameris; Bild unten: ANDRANIK-HAKOBYAN / alle Shutterstock.com

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