Ein Meinungsbeitrag von Johannes Konstantin Poensgen

Friedrich Merz bekommt zurzeit den Mund nicht auf, ohne zu schwören, niemals mit der AfD zu koalieren. Sehen wir mal, wie das nach der Wahl aussieht. Ende Januar, vor der zweiten Abstimmung im Bundestag zur Migrationsbeschränkung, habe ich gesagt, dass dies der Startschuss für eine schwarz-blaue Koalition sei. Ich will nicht behaupten, dass ich mir da hundertprozentig sicher bin, aber wetten würde ich darauf schon. Seitdem hat Friedrich Merz keine Gelegenheit ausgelassen, mir zu widersprechen. Niemals werde die Union mit der AfD in eine Koalitionsregierung gehen! Aber genau dasselbe hat er im Herbst über die Mehrheitsbeschaffung im Bundestag gesagt. Niemals! Niemals! Vergessen wir nicht, dass es Friedrich Merz war, der die Idee aufbrachte, Gesetzgebungsanträge unter den Altparteien abzustimmen, um das zu vermeiden, was er eine „Zufallsmehrheit“ nannte. Nun, eine Zufallsmehrheit war es auch nicht, mit der Friedrich Merz den ersten seiner beiden Migrationsanträge kürzlich durchgebracht hat. Merz – soweit haben SPD und Grüne schon recht – wusste genau, mit wem er sich da einlässt.

Merz ein genialer Staatsmann?
Der Spieltheorieprofessor Christian Rieck sieht deshalb schon in Merz einen genialen Staatsmann, der die Merkelianer mit Merkels eigener Taktik geschlagen habe: Erst felsenfest abstreiten, dass man etwas plane, um dann eine 180-Grad-Wende zu vollziehen, bevor irgendeiner der Gegner reagieren kann. Man muss aber Merz nicht zum gerissensten Seitenwechsler seit Talleyrand hochjubeln, um zu erkennen, dass Merz zumindest einen Grundsatz dieses Franzosen beherzigt hat, der es schaffte, unter dem Ancien Régime, der Revolution, Napoleon und der Restauration immer irgendwie oben zu bleiben: „Verrat ist eine Frage des Zeitpunktes.“ Der Zeitpunkt ist das entscheidende! Und damit meine ich nicht die Empörung nach dem Anschlag von Aschaffenburg. Zwei andere Entwicklungen zwischen Anfang November 2024, als Merz „Zufallsmehrheiten“ verhindern wollte, und Ende Januar 2025 waren entscheidend: eine innenpolitische und eine außenpolitische.

Außenpolitische Realität
Beginnen wir mit der außenpolitischen der Wiederwahl Donald Trumps. Aber nicht nur der bloßen Wiederwahl. Wichtiger ist, dass in dieser Zeit zwischen seiner Wahl und der ersten Woche nach seiner Amtseinführung eines klar wurde: Die zweite Präsidentschaft Trumps mag ausgehen, wie sie will, aber sie wird nicht so im Sande verlaufen wie die erste. Erinnern wir uns: In seiner ersten Amtszeit gelang es Trump kaum, einen Minister zu finden, der auch nur annähernd bereit war, Trumps Programm umzusetzen. Alle Institutionen arbeiteten offen gegen ihn. Zwei Drittel seiner ersten Amtszeit brachte er damit zu, sich gegen an den Haaren herbeigezogene Verfahren zu wehren, die ihm offen feindliche Institutionen – vom Kongress über die Justiz bis zu den Medien – trotz aller offenkundigen Lächerlichkeit der Behauptung, die Russen hätten irgendwie die Wahl „gehackt“, solange wiederholten, bis Trumps Uhr ausgelaufen war. Das Amerika von 2017 bis 2020 war ein Irrenhaus, und Trump lief gegen die Wände einer Gummizelle.

Das ist dieses Mal ganz anders
Erstens hat sich seit Trumps Wahl eindeutig gezeigt, dass er inzwischen über ausreichende Unterstützung in der US-Elite verfügt, um eine Wiederholung des Zirkus von 2017 ff. auszuschließen. Neema Parvini, der Trumps Wahlsieg als einer der ersten vorausgesagt hat, hat nicht nur über den Wahlausgang recht behalten, sondern auch darüber, dass es dieses Mal keine „Resistance“ geben würde. Selbst die Linksradikalen, die 2017 bei Trumps erster Amtseinführung in Washington die Straßen und dreieinhalb Jahre später im „Summer of Floyd“ das halbe Land angezündet hatten, waren klug genug zu erkennen, dass sie diesmal nicht auf die Rückendeckung aus dem Establishment zu rechnen brauchten. Sie blieben zu Hause.

Diesmal ist alles anders
Dazu hat Trump diesmal ein arbeitsfähiges Team am Start. Nicht den zusammengewürfelten Haufen aus Fossilien der Republikanischen Partei (Vizepräsident Mike Pence) und exzentrischen Medienpersönlichkeiten (Steve Bannon). Jetzt stehen da Persönlichkeiten, die von Vizepräsident Vance über Verteidigungsminister Pete Hegseth bis zur Geheimdienstdirektorin Tulsi Gabbard die richtige Mischung aus Radikalität und politischer Erfahrung mitbringen, um einen Staat umzukrempeln. Trump, der mit dem Geburtsjahr 1946 dem ersten Jahrgang angehört, den man nach gängigster Konvention zu den Boomern rechnet, ist damit auch derjenige, der den längst überfälligen Generationenwechsel in der amerikanischen Politik vollzieht. Hegseth ist Jahrgang 1980, Gabbard 1981, Vance 1984. Die älteren Angehörigen der Millennial-Generation sind in die höchsten Staatsämter aufgerückt.

Kein Staatsstreich – aber effektiv
Was Elon Musk überdies mit dem Department of Government Efficiency aus dem Hut gezaubert hat, wird selbst von denjenigen in seiner Bedeutung verkannt, die es als Staatsstreich bezeichnen. Der Einfall, künstliche Intelligenz einzusetzen, um die Staatsfinanzen wieder nachvollziehbar zu machen, ist viel mehr als das. Es ist eine Revolution und zwar eine Revolution, die sich von alleine fortführte, selbst wenn die gesamte Regierung Trump morgen vom Erdboden verschluckt würde. Denn die Technik ist nunmal da. Damit ändert sich nicht einfach eine politische Führung, damit ändert sich die Art und Weise, in der Staaten verwaltet werden. Unabhängig von der Frage, wer zukünftig welches Amt bekleiden wird: Politische Amtsträger werden in Zukunft wieder viel direkter steuern können, was die Bürokratie so macht. Diese Fähigkeit hatten sie im zwanzigsten Jahrhundert durch das schiere Anwachsen der Behördenstellen weitgehend verloren. Jetzt kann eine Arbeitsgruppe mit Computerunterstützung in Tagen ermitteln, wofür früher eine Rechnungsprüfung Monate und Jahre gebraucht hätte. Das ändert alles.

Was sich auch ändert, ist das Kalkül der deutschen Unionsparteien
Die Union ist transatlantisch bis ins Mark. Das ist keine Frage der Entscheidungen dieses oder jenes Politikers. Die Union sieht sich selbst als die staatstragende Partei der Bundesrepublik Deutschland, und das zu Recht, auch wenn man das kaum als uneingeschränktes Lob aussprechen kann. Seit Adenauer beruht das gesamte politische Gebäude, das die Union errichtet hat, auf der US-amerikanischen Hegemonie. Die US-amerikanische Hegemonie hat nach dem Zweiten Weltkrieg Europa befriedet. Das hat die europäischen Völker ihre Freiheit und Selbstbestimmung gekostet. Aber so ist das mit dem Frieden eben. Doch auf diesem Frieden, der die jahrhundertealten Konflikte Europas unter das Star-Spangled Banner gekehrt hat, beruht die gesamte politische Ordnung Deutschlands wie Europas, an der die Union klebt wie keine andere Partei.

Zeitenwende?
Wenn der mächtigste Mann Amerikas, Elon Musk, offen zur Wahl der AfD auffordert, wenn der Vizepräsident in einer Rede so offen die Koalition mit der AfD fordert, wie es die diplomatische Konvention auch nur irgendwie gestattet, dann wird die Union nachziehen – mit Verzögerung und mit einigem Heulen und Zähneklappern, aber sie wird nachziehen. Aus demselben Grund, aus dem sie bisher den Linksdrift aus Amerika mitgetragen hat. Aber nicht nur die große Weltbühne hat sich gewandelt. In Deutschland selbst ist seit dem Herbst vergangenen Jahres eines klar geworden: Es geht nicht nur um Migration. Es geht nicht nur um ein Thema. Das Land brennt an allen Ecken und Enden. Das hat zur Folge, dass es sehr schwierig ist, noch eine stabile Regierung zustande zu bringen. Dafür sind zu viele Streitfragen offen, die man nicht mehr auf unbestimmte Zeit vertagen kann.

Brandmauer auf Zeit
Nur die Brandmauer gegen die AfD hochhalten zu wollen, reicht nicht mehr als Grundlage. Man muss auch so profane Dinge tun wie einen Haushalt verabschieden. Und das in Zeiten, in denen es nicht mehr möglich ist, jedes Problem durch Schuldenaufnahme in die Zukunft zu verschieben. Wir haben am morgigen Sonntag Neuwahlen, weil die Ampelkoalition sich nicht mehr auf einen Haushalt einigen konnte, obwohl alle drei Ampelparteien wussten, dass sie bei Neuwahlen nur verlieren können. Ein ähnliches Phänomen hatten wir übrigens in Österreich, dessen Parteiensystem dem bundesrepublikanischen sehr stark ähnelt. Dort scheiterten die Ampelverhandlungen an genau derselben Frage.

Einfach „merkeln“ geht nicht mehr
Christian Lindner sagte 2017: „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.“ 2021 tat er dann das Gegenteil. Aber diese Wahl liegt gar nicht mehr auf dem Tisch. Das ist es, was sich verändert hat. Damals gab es die Möglichkeit, sich mit irgendwem auf einen falschen Kompromiss einzulassen und dann seine vier Jahre abzureißen. Das geht nicht mehr. Wer heute falsch regiert – das hat Olaf Scholz demonstriert – regiert sehr schnell gar nicht mehr. Zumindest dann nicht, wenn er von einer Koalition abhängt. Das unterscheidet übrigens Olaf Scholz und jeden möglichen Nachfolger von Keir Starmer in Britannien und Emmanuel Macron in Frankreich: Starmer stützt sich dank Mehrheitswahlrecht auf eine stabile Labour-Mehrheit, die nur von einem Bruchteil des Landes gewählt wurde. Macron müsste schon freiwillig von der Präsidentschaft zurücktreten, und dafür ist er bis jetzt zu eitel. Deutscher Bundeskanzler mit einer Koalition zu werden, die sich auf nichts einigen kann – das hätte Merkel zu ihrer Zeit nicht gestört. Wenn alle anderen sich anschrieen, ließ sich immer am besten „merkeln“. Aber heute ist das ein Schleudersitz.

Geht die Union auf die AfD zu?
Die SPD ist zu grundlegenden Reformen derzeit weder in der Migrationsfrage noch im sozialen oder wirtschaftlichen Bereich oder auch nur bei der Energiepolitik bereit. Das kann sich ändern, wird aber Zeit brauchen. Die einzige Frage ist, ob die Union bereit ist, auf die AfD zuzugehen. Ich denke, die Antwort lautet Ja, und das sage ich keineswegs mit ungetrübter Freude. Ich denke vielmehr, dass weite Teile des notwendigen Programms dabei untergehen werden. Aber die Abstimmung am 31. Januar, von der alle sagen, Merz habe sie verloren, war ein durchschlagender Erfolg für den neuen Kurs innerhalb der Bundestagsfraktion der Union. Die Abgeordneten der Union waren die Einzigen, die an diesem Tag wirklich an einer entscheidenden Abstimmung teilnahmen. Dass Vertreter andere Parteien auch noch ihre Stimmkärtchen in die Urnen warfen, war kosmetisches Beiwerk. Von 196 Unionsabgeordneten stimmten 184 für Merz und gegen Merkel, denn das war es, was hier tatsächlich zur Abstimmung stand. Die anderen zwölf haben sich noch nicht einmal enthalten, sondern gar nicht erst in den Bundestag getraut. Merz ist nicht der Jahrhundertstaatsmann, zu dem ihn Professor Rieck aufgeblasen hat, aber er führt mit taktischem Geschick eine Wende innerhalb der Union durch.

Doch warum verspricht Merz dann immer noch, niemals mit der AfD koalieren zu wollen?
Verrat ist eine Frage des Zeitpunktes. Es wäre sinnlos für ihn, dieses Fass vor der Wahl aufzumachen. Sobald die Stimmen aber in den Urnen sind und die Koalitionsverhandlungen mit der SPD oder gleich mit SPD und Grünen ergebnislos verlaufen sind, wird Merz leider, leider nichts anderes übrig bleiben. Wem tatsächlich nichts anderes übrig bleiben wird, ist die AfD. Dort werden manche sehen, dass die Umarmung durch die Union mittelfristig tödlich sein kann. Aber einmal angeboten, wird man das Angebot kaum gesichtswahrend ausschlagen können, und in der AfD gibt es zurzeit keinen Herbert Kickl. Ich bleibe dabei: Schwarz-Blau kommt.

Beitragsbild / Symbolbild und Bild oben: Klaus Vartzbed; Bild in der Mitte: Jonah-Elkowitz; Bild unten: photocosmos1 / alle Shutterstock.com

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