Von Jan Ackermeier
Browns beschädigter und sehr tief fliegender Bomber wurde beim Überflug vom Jagdpiloten Leutnant Franz Stigler bemerkt, als seine Messerschmidt Bf 109 auf dem Fliegerhorst Jever (nahe Oldenburg) nach seinem ersten Kampfeinsatz an diesem Tag gerade aufgetankt und aufmunitioniert wurde. Stigler stieg sofort wieder auf und folgte dem Bomber. Er hatte zu diesem Zeitpunkt bereits 29 Luftsiege errungen und war ein erfahrener und erfolgreicher Kampfpilot. Stigler näherte sich von hinten der B-17 zum Angriff und wunderte sich über das Ausbleiben von Abwehrfeuer. Er bemerkte die schweren Beschädigungen, den toten Heckschützen, die Verwundeten durch den aufgerissenen Rumpf und die wehrlose Situation der gegnerischen Crew. Als gläubiger Katholik griff er nach dem Rosenkranz in seiner Fliegerjacke, den er immer bei sich trug und entschied sich aus Mitleid, befehlswidrig die amerikanische Maschine nicht anzugreifen. Er gab später an, die Lage der Amerikaner mit der von mit Fallschirmen abgesprungenen Besatzungsmitgliedern gleichgesetzt zu haben. Er erinnerte sich an die Worte seines ehemaligen Vorgesetzten und „Mentors“ aus dem Jagdgeschwader 27, Gustav Rödel, während seiner Zeit in Nordafrika: „Wenn ich jemals sehe oder höre, dass Sie auf einen ausgestiegenen Piloten an einem Fallschirm schießen, werde ich Sie selbst erschießen. Sie halten sich im eigenen Interesse an die Kriegsregeln, nicht im Interesse Ihres Gegners, sondern vor allem, um Ihre eigene Menschlichkeit nicht zu verlieren.“
Alternatives Handeln
Stattdessen flog Stigler also nahe neben der feindlichen Maschine und nahm Blickkontakt mit Brown auf. Da Stigler sich bewußt war, dass sein Verhalten als Verrat mit dem Tod bestraft werden könnte, versuchte er zunächst, die Amerikaner mit Gesten und Handzeichen zur Landung zu bewegen, was aber vom Kommandanten Brown nicht verstanden wurde. Auch seine Vorstellung, der Bomber könnte im nahen neutralen Schweden landen, konnte er dem Bomberpiloten nicht vermitteln. So flog er weiter neben der schwer beschädigten B-17, die Kurs Richtung England hielt, her, um sie sicher aus deutschem Gebiet zu geleiten. Durch den Formationsflug mit einer deutschen Maschine war die B-17 nämlich vor Flugabwehrfeuer geschützt. Da die Luftwaffe auch erbeutete Flugzeuge einsetzte, war ein solcher gemeinsamer Flug einer Bf 109 mit einer B-17 zwar sehr ungewöhnlich, aber nicht völlig abwegig. Als die B-17 dann die Nordsee erreichte, salutierte Stigler zu Brown, drehte ab und landete auf dem Fliegerhorst Bremen-Neuenlanderfeld. Die „Ye Olde Pub“ landete sicher in Norfolk. Brown meldete den Vorfall sofort seinem Vorgesetzten und wurde vom militärischen Geheimdienst zu Stillschweigen verpflichtet, weil der Vorfall natürlich nicht der antideutschen Propaganda nützlich war. Auch Stigler erzählte zunächst niemandem außer seiner Frau von den Ereignissen, weil er bei Bekanntwerden mit Militärgericht und Todesstrafe hätte rechnen müssen.
Wie ging es weiter?
Brown diente bis 1965 weiter in der Air Force und flog viele weitere Gefechtseinsätze unter anderem in Korea und im beginnenden Vietnamkrieg. Stigler diente bis Kriegsende weiter, flog insgesamt 517 Einsätze, war Träger des Deutschen Kreuzes in Gold und wanderte 1953 nach Vancouver, Kanada aus und wurde dort ein erfolgreicher Geschäftsmann in der Forstwirtschaft. Brown versuchte zeitlebens die Motive des deutschen Piloten zu ergründen, Stigler fragte sich dagegen, ob es die B-17 sicher nach England geschafft hatte. 1987 begann Brown vor allem in englischen Archiven und in Archiven der Bundesluftwaffe zu recherchieren – allerdings ohne Erfolg. Auf Anraten des ehemaligen Luftwaffen-Generals Adolf Galland, den Brown bei einem Ehemaligentreffen kennengelernt hatte, schrieb er dann 1990 dem „Jägerblatt“, der Zeitschrift der „Gemeinschaft der deutschen Jagdflieger“, einen Suchbrief, in dem er den Piloten suchte, der ihm und seiner Besatzung damals das Leben rettete, ließ aber einige Details der Begegnung bewusst aus.
Stigler schreibt Brown
Ein paar Monate später erhielt Brown dann einen Brief von Stigler aus Kanada. Als sie miteinander telefonierten, beschrieb Stigler sein Flugzeug, die Eskorte, den Salut und weitere Details und bestätigte damit alles, was Brown hören musste, um mit Sicherheit zu wissen, dass Stigler der deutsche Jagdpilot war, der in den Vorfall verwickelt war. Die beiden ehemaligen Soldaten trafen sich bald persönlich und sie und ihre Familien wurden enge Freunde und blieben es bis zu ihrem Tod im Abstand von einigen Monaten im Jahr 2008. Die Ereignisse wurden in dem 2013 erschienenen Tatsachenroman „A Higher Call“ thematisiert. Das Buch erschien 2017 in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Eine höhere Pflicht“ und bekommt meine uneingeschränkte Leseempfehlung!
Beitragsbild / Symbolbild: „A higher call“ – Gemälde von John D. Shaw. Urheber unbekannt.
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