In der Sendereihe Tag für Tag des Deutschlandfunks (DLF) gab es am 7. März 2022 einen Beitrag, in dem Ralf Becker, der Koordinator der bundesweiten Initiative „Sicherheit neu denken“, zu Fragen der Friedensethik interviewt wird. Ein unbedingt hörenswerter Beitrag – der Link zum Nachhören findet sich ganz unten.
Die Radiomoderatoren des DLF kennen Ihr Fach. Dies kann täglich zu fast jeder Tageszeit „überprüft“ werden. Und da es nun mal der Deutschlandfunk ist, kommen dort Interviewgäste vors Mikrofon, die auch etwas zu sagen haben. Der Interviewer will die Kunst beherrschen, mit gezielt gestellten Fragen die gegebenen Antworten zu lenken. Wenn er seinem Gegenüber ins Wort fallen muss, weil ihm dessen Gedankengang nicht passt, ist zuvor in der Fragetechnik etwas schiefgelaufen.
So auch in diesem Gespräch. Christiane Florin vom DLF bringt zu Beginn eine Pressmitteilung des Forum Evangelische Friedensethik mit dem Titel „mehr Entspannungspolitik wagen“ ins Spiel und vergleicht ihn mit Willy Brandts Ausspruch „mehr Demokratie wagen“. Sie stellt Ralf Becker, Koordinator der bundesweiten Initiative „Sicherheit neu denken“ im Auftrag der badischen Landeskirche und Mitglied des Forums, die Frage, ob das nicht „naiv“ sei. Er erwidert darauf:
Nein, überhaupt nicht. Man muss sich doch eher fragen, ob es nicht naiv ist, wenn wir versuchen, Konflikte in der Welt militärisch zu lösen und auf Gewalt mit Gewalt zu reagieren. […] Ein wesentlicher Grund für Hitlers Aufstieg [war] die Demütigung Deutschlands im Versailler Friedensvertrag 1918. Und da geht es dann ganzen Nationen genauso wie Einzelmenschen. Wenn wir uns gedemütigt fühlen, dann gibt es oft eine Reaktion, die manchmal auch gewaltsam ist, um sich wieder zu erhöhen und manchmal zu überhöhen. Und genau das erleben wir jetzt bei Präsident Putin. Denn er fühlt sich unserer Ansicht nach zu Recht 30 Jahre betrogen vom Westen, weil wir 1990 – als wir diese friedliche Einigung in Europa hatten – vereinbart haben, dass wir gemeinsame Friedens- und Sicherheitsstrukturen in Europa aufbauen unter dem Dach der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Und wir haben diese Chance verpasst […] und haben stattdessen die NATO -Osterweiterung betrieben, vor der Putin jetzt zunehmend in Angst geraten ist.
An dieser Stelle unterbricht ihn Florin abrupt. Hatte Becker es doch tatsächlich gewagt, die Demütigung Deutschlands durch den Versailler Vertrag 1918, welche in eine heftige Revanchepresse und -rhetorik und schließlich in den Zweiten Weltkrieg mündete, mit der langjährigen Zurückweisung einer ernsthaften sicherheitspolitischen Zusammenarbeit mit Russland durch den Westen zu vergleichen. In der dargelegten Argumentationskette von Becker entsteht eine Empathie beim Zuhörer, die im öffentlich-rechtlichen DLF wohl nichts zu suchen hat, gerade wenn sich diese zur „falschen“ Seite neigt. So kann Frau Florin erleichtert sein, dass Becker sich zu der politisch völlig unkorrekten Formulierung „zu Recht“ hinreißen lässt – endlich eine Gelegenheit, den Vortrag des Friedensethikers unterbrechen, der Florin offensichtlich inhaltlich herausfordert.
DLF: Sie haben gesagt, „zu Recht“. Zu Recht wird ein Angriffskrieg geführt?
B.: Nein, nein.
DLF.: Oder bezeichnen Sie das nicht als Angriffskrieg, was da stattfindet?
B.: Doch. Ein Angriffskrieg ist natürlich mit nichts zu rechtfertigen. Ich habe nur gesagt, Putin fühlt sich mit Recht betrogen. Das gibt ihm nicht das Recht, einen Angriffskrieg zu führen. […] Die Frage ist nur: Was ist der entscheidende Punkt, mit dem wir Putin erreichen können, damit diese Gewalt aufhört und nicht – wie es jetzt scheint – in einen langjährigen Guerillakrieg überführt wird.
Es ist eine bezeichnende Stelle, hat doch Becker einen Augenblick tatsächlich geglaubt, er hätte als Gegenüber eine gänzlich sachliche Gesprächspartnerin – sie wird ja schließlich durch den allgemeinen Rundfunkbeitrag finanziert. Für einen winzigen Augenblick vergisst er, dass die Moderatorin vom DLF unter keinen Umständen zulassen darf, dass eventuelle Schuldanteile an diesem unseligen Krieg dem Westen zufallen könnten.
Mit der Zwischenfrage wird Herr Becker schlagartig in die russlandfreundliche Ecke gedrängt – mit nur sehr mäßigem Erfolg, wie sich im weiteren Verlauf des Gesprächs herausstellt. Der Friedensethiker reagiert geschickt und distanziert sich von der unterstellten Rechtfertigung des Angriffskrieges.
Er bringt im Laufe des Interviews einen noch größeren Wahrheitszusammenhang zur Geltung, indem er die Zusammenhänge nach der politischen Wende 1990 zutreffend wiedergibt: Russland wurde seinerzeit das Versprechen gegeben, eine gemeinsame europäische Sicherheitsordnung aufzubauen und trotzdem hat sich die NATO immer weiter Richtung Osten ausgebreitet. Annäherungsversuche durch Russland an die NATO sind wiederholt gescheitert. Becker zieht eine Parallele zu Nordkorea:
Gucken Sie sich Nordkoreas Machthaber an. Der hat aufgerüstet, weil er auf Augenhöhe mit den USA verhandeln wollte. Die USA haben ihn […] nicht ernst genommen und haben wirklich mit Drohung reagiert. In dem Moment, wo Präsident Trump bereit war, sich mit dem Machthaber zu treffen, hat er ein Jahr lang auf alle Atomtests verzichtet, und fühlte sich befriedigt, indem er ernst genommen wurde. Und dieses Gefühl fehlt Putin, dass er vom Westen ernst genommen wird. […] Selbst für Kinder gilt das, wenn man mit ihnen auf Augenhöhe spricht, kann man dort sehr viel erreichen.
Becker vertritt seinen Standpunkt aus einer menschlich-psychologischen Perspektive und ermöglicht damit beim Hörer eine emotionale Annäherung an seine Ausführungen. Außerdem bricht er ganz am Rande – fast unbemerkt – mit dem hartnäckigen zeitgenössischen Urteil, Trump habe in der ganzen Welt nur Scherben zerschlagen.
Zusammenfassend spricht Herr Becker in diesem Interview zwei zentrale Punkte an: Das ambivalente Verhalten des Westens und der NATO über die letzten drei Jahrzehnte als auch der Glaube des Westens, die nach der politischen Wende angetroffene Ohnmacht des Ostblocks würde für immer so bestehen bleiben und man könne Russland wie einen kleinen Jungen behandeln.
Unabhängig davon welche Seite im Ukraine-Krieg besser zu verstehen ist – dieser Konflikt gefährdet das Gefüge der NATO und stellt damit auch Deutschland vor neue sicherheitspolitische Herausforderungen. Durch seine zentrale Lage in Europa müsste die Bundesrepublik Deutschland für sich selbst Verantwortung übernehmen können, doch sie ist aufgrund ihrer mangelnden moralischen und militärischen Reife im Moment dazu nicht in der Lage. Friedenspolitik ist deshalb das Beste, was Deutschland derzeit leisten kann, auch wenn dies anstrengend ist und keine kurzfristigen Profite abwirft.
mb, Aaron Kimmig
Das vollständige Interview ist nachzuhören in der Mediathek des Deutschlandfunks: https://www.deutschlandfunk.de/ist-friedensethik-naiv-interview-mit-ralf-becker-landeskirche-baden-dlf-7fa66fee-100.html
Was für ein respektabler Artikel. Zum derzeit schwierigsten und kompliziertesten Thema unserer Zeit.
Gewiss, Krieg ist immer das schwierigste und komplizierteste und gewichtigste.
Es geht um Leben und Tod. Um Schwerverletzte.
Um Vertriebene, hungernde, frierende, verstümmelte, vergewaltigte, verängstigte Menschen.
Der Autor stellt die richtigen Fragen
Beantworten wir sie.