Es ist Zeit, dass Sie Ihren guten alten Plattenspieler reaktivieren. In der Zeit, in der andere politisch korrekte Symbole vor sich hertragen, können Sie etwas Sinnvolleres tun: sich kulturell bilden.
Aus aktuellem Anlass möchten wir Ihnen eine Platte empfehlen, die auch ausserhalb des politischen komplizierten Zusammenhangs Hochgenuss verspricht. Aber gerade jetzt ist es bekanntlich von jedem Bürger gefordert, Zeichen zu setzen.
Vladimir Horowitz – In Moscow
Keiner spielt wie Horowitz. Er wird von nahezu jedem Pianisten – zum Teil hinter vorgehaltener Hand – hochverehrt, auch wenn heute keiner mehr so spielt wie er. Wer ein bisschen im Thema ist, wird mir bestätigen, dass man sein Klavierspiel nach wenigen Sekunden auch über das schlechteste Radio sofort erkennt.
Horowitz wurde kurz nach der Jahrhundertwende auf heute ukrainischem Boden in Berdytschiw geboren. Die Quellenlage ist nicht eindeutig – es wird auch von einer Geburt in Kiew gesprochen. Beide Orte jedenfalls gehörten seinerzeit zum russischen Kaiserreich unter Zar Nikolaus II. Über das richtige Geburtsjahr gibt es ebenso wilde Theorien (1903 oder 1904). Sein Hintergrund ist jüdisch und ersten Klavierunterricht erhielt er von seiner Mutter. Schon im zarten Alter von 11 Jahren kommt der Kontakt zum Komponisten Alexander Skrjabin zustande, der ihm eine große Karriere voraussagt.
In den politischen Wirren beschließt Horowitz 1925 zu fliehen. Mit ein paar Geldscheinen in den Schuhen versteckt, macht er sich auf gen Westen. Er wird recht schnell zum Star und debütiert 1928 in der Carnegie Hall. Von vielen langjährigen kranheitsbedingten Schaffenspausen kehrt er jeweils noch umjubelter zurück. So ist für den echten Romantiker seine letze künstlerische Phase bis zu seinem Tod die Interessanteste. Sein legendäres Berliner Konzert vom 18. Mai 1986 ist vielen Musikliebhabern ein Begriff.
Die 86er-Tournee beginnt aber mit einem viel geschichtsträchtigeren Konzert. Jenem vom 20. April desselben Jahres in der großen Halle des Moskauer Konservatoriums. Im Netz sind viele kleine dokumentarische Schnipsel zu diesem Ereignis zu finden.
Kleine Randbemerkung: die seinerzeitigen Journalisten, die Horowitz auf seiner Tournee begleiteten, hatten echte Ahnung von der Materie! Eine echte Wohltat. Heutzutage kaum mehr vorstellbar.
Ohrenzeugen berichten, dass die Hauptprobe vor Studenten des Moskauer Konservatoriums tags zuvor noch berückender gewesen sei. Leider gibt es davon keine komplette Aufnahme. Als er das Gelände nach der Hauptprobe verlassen will, um sich in sein kurzzeitiges Domizil in der amerikanischen Botschaft zurückzuziehen, umdrängen die Studenten seinen Wagen in einem Maß der Verehrung, wie man es eigentlich nur von westlichen Popstars kennt.
Es ist sein erster Auftritt in der Sowjetunion seit seiner Ausreise 61 Jahre zuvor. Damals hatte man ihm ein 6-monatiges Visum ausgestellt, das er um gut 60 Jahre überzogen hat. Alles war denkbar – bis hin zu einer sofortigen Verhaftung direkt am Flughafen. Es ist die Zeit der zarten Annäherung zwischen Ost und West mit Hilfe eines Kulturaustauschprogrammes zwischen den USA und der Sowjetunion.
Während eines Spazierganges durch Moskau fällt sein einziger politischer Kommentar zu dieser Konzertreise: „Ich komme als Botschafter des Friedens.“ Gleichwohl sei nicht verschwiegen, dass er ein inniges Verhältnis zur politischen Elite hatte. So konzertierte er auf Einladung der US-Pärsidenten Carter und Reagan mehrfach im East-Room des Weißen Hauses.
Zur für ihn immer ausgeschlossenen Rückkehr in die Heimat übertölpelt ihn aber sein Manager Peter Gelb mit dem Versprechen, dass er – wie gewohnt – königlich leben könne: ein eigener Koch, Zutaten und Trinkwasser lässt er aus der Heimat einfliegen.
Horowitz ist immer und auch bei diesem Konzert von riesiger Versagensangst erfüllt. Kurz vor einem Auftritt soll Horowitz einmal zu seinem Klavierstimmer und engen Vertrauten Franz Mohr gesagt haben: „Franz, ich gehe jetzt auf den einsamsten Platz“. Klavierstimmer ist allerdings etwas zu kurz gefasst, war er doch der Cheftechniker von Steinway & Sons in New York und von 1962 bis 1989 persönlich dafür verantwortlich, dass Klavier von Horowitz zu warten. Aber auch die von anderen Giganten wie Rubinstein oder Gould. Kein anderer durfte Hand anlegen.
Unter ständiger Aufsicht Mohrs begleitet Horowitz auch zu diesem Konzert sein privater Hausflügel, so wie bei jeder Konzertreise. Der berühmt-berüchtigte Konzertflügel, Modell D-274 mit der Seriennummer 314 503. Ein nachträgliches Hochzeitsgeschenk des Traditionsunternehmens Steinway & Sons im Jahre 1942. Der Transport des Flügels gestaltet sich besonders schwierig – nur durch das Fenster kann er verladen werden. Nach dem Tod Horowitz‘ ging der Flügel auf Tournee durch die weltweiten Verkaufsräume von Steinway & Sons, bei der man 20-Minütige Spielzeiten buchen konnte. Für viele waren das sehr emotionale 20 Minuten.
Horowitz’ oberste Prämisse gilt dem „singenden Ton“. Immer wieder hat er es gepredigt: Das Piano solle singen, obwohl es ein Percussion-Instrument sei. Und Horowitz konnte singen. Wie kein anderer entlockt er dem Instrument einen kantilenen Ton, einer menschlichen Stimme gleich. Dazu seine Kunstfertigkeit, mehrere zugleich gespielte Stimmen ungleich zu phrasieren. Seine pp haben hunderte Abstufungen, womit er riesige, weite Klanglandschaften malt. Zu Hilfe kommt ihm dabei natürlich auch die eigenwillige, leichte Einstellung der Tastatur.
Viele sind der Meinung, Vladimir Horowitz habe nie besser musiziert als in seinen letzten Lebensjahren. Selbstverständlich ist ein Pianist in seinen Achtzigern nicht mehr in der körperlichen Verfassung, um überwiegend über die Tastatur zu stürmen, einem Tornado gleich. Dennoch kann Horowitz es sich auch diesmal nicht verkneifen, mit seiner Technik zu kokettieren. So fehlen seine Parade-Stücke auch in diesem Konzert nicht. Vielleicht spielt er Skrjabins dis-Moll Etüde nicht mehr ganz so halsbrecherisch wie in jungen Jahren. Nun verleiht er dem Stück jedoch Reife, Nachdruck und dunkel-braune Wärme. Der Pianist Horowitz – als Musiker gereift – ein Klangmagier.
Das Konzert war ein voller Erfolg und rührte vieler seiner ehemaligen Landsmänner und -frauen im Publikum zu Tränen. Horowitz besticht durch das gesamte Repertoire (Scarlatti, Mozart, Rachmaninoff, Scriabin, Liszt, Chopin, Schumann, Moszkowski) mit einer außerordentlichen Klarheit und immenser Ausdrucksstärke. Freunde des damals 81-jährigen Musikers sagten im Anschluss, sie hätten ihn seit Jahren nicht auf diesem Level gesehen.
Gleiche Begeisterung löst auch die Aufnahme des Konzertes der Deutschen Grammophon Gesellschaft aus. Herrlich transparent und direkt transportiert sie dieses Jahrzehnte zurückliegende Ereignis nahezu 1:1 in Ihr Wohnzimmer. Und die Klangmagie des Maestros lässt niemanden kalt – selbst hartnäckige Klassikverächter werden dieser Platte einen Ehrenplatz freimachen.
Gönnen Sie sich dieses Jahrhundertereignis wirklich als Schallplatte. Neben der Sprache und deren Buch ist die Musik mit ihrer Schallplatte eines der größten Kulturgüter der Menschheit. Sowas streamt man nicht.
Setzen Sie, wie Horowitz damals, ein Zeichen für die Völkerverständigung und legen Sie diese Platte auf.
mb
Bilder von mb