Vom 24. März 1999 an bombardierte die NATO unter Beteiligung Deutschlands fast 80 Tage lang Serbien. Wie Außenminister Joschka Fischer damals auf dem grünen Sonderparteitag darlegte, sei Serbien drauf und dran, einen zweiten Holocaust mit der albanischen Bevölkerung in [der serbischen Provinz] Kosovo zu verüben. Daraufhin verfiel die bisherige Friedenspartei der Grünen in Schockstarre und befürwortete den ersten Krieg Deutschlands nach 1945. Der Krieg mit deutscher Beteiligung war nicht ohne: „Die Nato zerstörte oder beschädigte 60 Brücken, 110 Krankenhäuser, 480 Schulobjekte, 365 Klöster, das Fernsehzentrum, die Strom- und Wasserversorgung, 121 Industriebetriebe. 2500 Menschen fanden den Tod. Als besonders zynisches Kriegsverbrechen gilt bis heute“ neben anderen im Artikel aufgeführten Bombardierungen der „Einsatz von über 30.000 Urangeschossen an über 80 Orten“ – dies und mehr schreibt die Berliner Zeitung im Juni 2021.

Vor Kurzem hat Wolodymyr Selenskyj in Israel eine Videorede in der Knesset aufführen lassen und die Invasion und den Krieg Russlands in der Ukraine mit der „Endlösung der Judenfrage“, also dem Holocaust, verglichen. Sein Ziel war, Israel zur Lieferung von Raketenabwehrsystemen und zur Beteiligung an Sanktionen gegen Russland zu veranlassen. Aber die Israelis waren pikiert – es darf nur einen Holocaust geben und das ist ihrer. Die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem kritisierte Selenskyjs Anspielung auf die „Endlösung“. Derartige unverantwortliche Äußerungen trivialisierten die historischen Fakten des Holocausts, hieß es. Der israelische Kommunikationsminister Yoaz Hendel äußerte: „Der Krieg ist schrecklich, aber der Vergleich mit den Schrecken des Holocaust und der Endlösung ist unerhört“. Israel verhält sich in diesem Konflikt neutral, sieht man von humanitärer Hilfe und der Lieferung eines Feldlazaretts an die Ukraine ab. Da Israel regelmäßig und bis zum heutigen Tage – von unseren Medien großzügig ignoriert – immer wieder iranische Stellungen in Syrien bombardiert, will das Land es sich mit den ebenfalls in Syrien involvierten Russen nicht verscherzen.

Damit nicht genug: Auch der russische Außenminister Sergej Lawrow trat ins Fettnäpfchen. In einem Interview behauptete er, in der ukrainischen Regierung gäbe es Neonazis. Er sagte weiter, dass Selenskyj das bestreiten und auf die Tatsache hinweisen würde, dass er selbst Jude sei. Dazu meinte Lawrow: „Ich könnte mich irren, aber Hitler hatte auch jüdisches Blut.“ Im selben Atemzug versuchte Lawrow dies abzuschwächen: „Das heißt überhaupt nichts. Das weise jüdische Volk sagt, dass die eifrigsten Antisemiten in der Regel Juden sind.“ Es erfolgte  – wen wundert’s – ein vielstimmiger Aufschrei. Der israelische Außenminister Jair Lapid etwa rügte: „Juden haben sich während des Holocaust nicht selbst ermordet.“ Das niedrigste Niveau von Rassismus gegen Juden sei es, Juden selbst des Antisemitismus zu bezichtigen. Wie Israel später bekannt gab, hat Putin sich für diesen Fauxpas seines Außenministers entschuldigt.

Übrigens: Russland hat im Zweiten Weltkrieg 27 Millionen Menschen verloren – eine unfassbare Zahl und heute wird in Moskau daran erinnert. Bei vielen dieser Opfer hat die sowjetische Führung eine Mitschuld: Stalin hat 1937/38 eine „große Säuberung“ im sowjetischen Offizierscorps durchgeführt, bei der unzählige Offiziere bis hin zu Dutzenden von Generälen sowie drei der fünf Marschälle ihr Leben verloren. Es rückten zu 150% linientreue, aber unerfahrene Militärführer nach und verheizten viele ihrer Soldaten – nicht nur oder nicht unbedingt aus Skrupellosigkeit, sondern auch aus Unerfahrenheit. Unter den Truppen, die Hitler gegen Russland bzw. die Sowjetunion führte, waren auch ukrainische wie die Waffen-SS-Division Galizien, deren Tradition in aller Brutalität vom 2014 neugegründeten Asow-Regiment fortgeführt wird. Das Freiwilligenbataillon wurde in die ukrainische Nationalgarde integriert und spielt neben anderen eine große Rolle im jetzigen Krieg. Auch unter dem KZ-Personal gab es viele Ukrainer, 2011 wurde der SS-Mann und Aufseher Ivan Demjanjuk in Deutschland im Alter von 91 Jahren zu 5 Jahren Haft verurteilt. Heute würde vermutlich gar keine Anklage gegen ihn eröffnet. Inzwischen blickt man angestrengt auf die Seite, wenn es um ukrainische Nazis geht.

Hass ist kein guter Ratgeber. Aber die Ukrainer in der Waffen-SS und anderen Verbänden meinten, Anlass zu haben, die Russen zu hassen. Stalin hatte Anfang der 1930er Jahre die ukrainischen Bauern dermaßen ausgepresst, dass es zu Hungersnöten mit je nach Schätzung drei bis neun Millionen Toten kam. Dieser absichtliche stalinistische Völkermord wurde im Westen Holodomor genannt – ein Begriff mit Anklang an Holocaust. Stalin war Georgier, aber die Verbrechen der kommunistischen Sowjetführung werden der größten und führenden Sowjetrepublik und ihrer Bevölkerung angelastet: Russland und den Russen.

Harald Noth

 

Beitragsbild: Lizenzfrei/National Archives and Records Administration, College Park

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