Von Roderich A.H. Blümel

Dr. Dr. Thor von Waldstein ist als Autor und Jurist wohlbekannt. Vor Kurzem hat er beim Verlag Antaios seinen mittlerweile dritten Band in der Reihe Kaplaken veröffentlicht, der sich diesmal dem Begriff des Rechtsstaats widmet. Begriff deshalb, weil Organisations- und Verfahrensfragen genauso wie konkrete Ausprägungen nicht im Mittelpunkt stehen, sondern die rechtsgeschichtliche Entwicklung des Rechtsstaatsbegriffes und in Teilen seine rechtsphilosophische Bedeutung.

Erschüttern bereits die ersten Seiten?
Manch unbefangener Leser, der bislang den Rechtsstaatsbegriff positiv aufgefasst hat, mag dabei bereits von den ersten Seiten erschüttert werden: Der Autor legt vielseitig und inhaltsreich die Vieldeutigkeit, die genuin deutsche Herkunft und die dahinterstehende Philosophie des Rechtsstaatsbegriffs dar. Es wird deutlich, dass es nicht um die Abwendung von Folter oder verbrecherischen Verfahren, sondern um ein juristisches Pendant zur liberalen Schwächung des Staates geht. Der „Rechtsstaat“ ist juristisch das, was Lassale politisch am liberalen „Nachtwächterstaat“ kritisiert hat. Wie so vieles andere auch ist auch der „Rechtsstaat“ ein Kampfbegriff des Liberalismus und schon deshalb zu hinterfragen, was der Autor vollumfänglich bewerkstelligt.

Nicht nur für Juristen
Trotz verschiedener juristischer Fachbegriffe und Verweise – selbst zahlreiche Juristen werden nur wenig mit dem Verweis auf Hans Kehlsen Rechtspositivismus als „normativistische Höhenflüge“ anfangen können – ist das Buch auch für jeden juristischen Laien gut lesbar und bietet zahlreiche Anlässe zur Vertiefung. Inhaltlich ist das Buch zweigeteilt: Der erste Abschnitt stellt eine rechtshistorische Übersicht über die Herkunft und Entwicklung des Rechtsstaatsbegriffes – der „lange Weg des Rechtsstaats vom hehren Verfassungsideal des Vormärz bis zu den Niederungen der begrifflichen Promiskuität in der späteren Bundesrepublik“ – dar, während der zweite deutlich politischer eine Kritik der Entwicklung der Bundesrepublik ist. Während auch Versuche im Dritten Reich, eine nationalsozialistische Interpretation des Rechtsstaats zu finden, thematisiert werden, findet sich leider zur DDR kein geschichtlicher Abschnitt. Die thematisierten geschichtlichen Abschnitte dürften dabei selbst Kennern der Materie neue Informationen bieten und sind, wie man es bei Büchern von Dr. Dr. Thor von Waldstein gewohnt ist, faktenreich und mit zahlreichen Fußnoten versehen.

Zusätzlich auch Pluralismuskritik
Der zweite Teil ist hingegen deutlich politischer. Während die Entwicklung der Bundesrepublik und der Beutewerdung des Staates für die politischen Parteien und ökonomische Akteure gekonnt dargestellt ist – der Leser bekommt quasi nebenbei noch eine fundierte Pluralismuskritik mitgeliefert – ist hier jedoch die größte Schwäche des Werkes zu finden: Die fehlende Belegung beziehungsweise Entwicklung der Ausgangsthese, nämlich das Ende des Rechtsstaats. Dies wird als solches nicht direkt begründet, die im Essay behandelte Umwandlung des Rechtsstaats zum Umverteilungsstaat vermag die Frage nach seinem Ende nicht zu beantworten. Dass „die BRD heute als ein staatsähnlich organisierter Machtagglomerat sui generis“ anstatt als Rechtsstaat darsteht, dürfte von den meisten Bürgern in der Form nicht direkt bejaht werden. Die verschiedenen rechtsstaatlichen Dysfunktionalitäten in politischen Prozessen, bei Verfassungsfragen oder auch bei der Corona-Pandamie sind unbestritten und bekannt, jedoch funktioniert der Rechtsstaat als Organisationsgefüge mit eigenen Verfahrensgesetzen auf die Masse der Verfahren gesehen im Alltag immer noch. Das Einklagen einer zivilrechtlichen Forderung mit den Verfahrensregeln der ZPO und der Einlegung von Rechtsmitteln gegen eine Entscheidung etwa funktioniert für den Normalbürger immer noch, ebenso die Einlegung eines Widerspruchs gegen einen Verwaltungsakt. Die Verkündung des Endes des Rechtsstaats dürfte daher für einen solchen Normalbürger begründungsbedürftig sein, da sie sich trotz aller negativen Entwicklungen nicht ohne Weiteres von selbst erschließt.

Das Format läßt nicht mehr zu
Das Fehlen dieser Begründung ist jedoch sicherlich zum einen der begrenzten Länge des Formats geschuldet und zum anderen der Fokussierung auf den Rechtsstaat als bürgerlich-liberaler Kampfbegriff des 19. Jahrhunderts und nicht als Organisations- und Verfahrensmodell. Die Erarbeitung dieses Begriffes und die Erhellung des „Nebelbegriffs“ Rechtsstaat ist dabei vollumfänglich gelungen und von Waldstein schafft es abermals, eine enorme Fülle an Informationen, Themen und Betrachtungen in ein an sich kleines Essay zu packen. Da, wo sich Kritikpunkte eröffnen, sind sie wohl maßgeblich dem beschränkten Umfang geschuldet. Angesichts dessen muss man sich eigentlich wünschen, dass er das Thema in einem noch umfangreicheren Werk vertiefen wird.

Dr. Dr. Thor v. Waldstein – Der Rechtsstaat nach seinem Ende, Verlag Antaios 2024, 96 Seiten, 10 Euro, hier bestellbar!

Beitragsbild / Symbolbild: Jure-Divich / Shutterstock.com; Bild in der Mitte: Buchcover / Verlag Antaios

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